»Jetzt kontrolliert der Maidan ganz Kiew«
Macht- und Postenwechsel in der Ukraine / Präsidentenwahlen bereits am 25. Mai
Im Rollstuhl wurde Julia Timoschenko auf die Bühne des Maidan in Kiew geschoben. Mit ihren ersten Worten im Dunkel des späten Samstags bekam der Machtkampf in Kiew so etwas wie seinen weihevollen Augenblick für die künftige Geschichtsschreibung: »Es lebe die Ukraine!« Unter Tränen versicherte sie den Demonstranten: »Ihr seid Helden, ihr seid die Besten der Ukraine!«
Umstürze brauchen ihre Symbole, und am besten taugte dafür in diesem Augenblick nicht nur für die Zehntausenden Teilnehmer im Zentrum Kiews die kurz zuvor nach zweieinhalb Jahren aus einem Gefängnis in Charkiw befreite Ikone der orangen Revolution und frühere Premierministerin.
Dazu passte, dass mit Arseni Jazenjuk der bisherige starke Mann ihrer Vaterlandspartei hinter die Chefin getreten war und sie nach vorn in die erste Reihe schob. Julia Timoschenko hatte mit der Ankündigung ihrer Kandidatur zu den Präsidentschaftswahlen, die nun auf den 25. Mai und damit den Tag der Europawahl vorgezogen wurden, die Verhältnisse schon einmal vorab geklärt. Für die Wahl eines Regierungschefs würde ihr zweiter Mann zur Debatte stehen, hieß es am Sonntag. Als weiterer prominenter Kandidat für das Amt wurde der Unternehmer Pjotr Poroschenko gehandelt.
Die Zahl der Abgeordneten in der Parlamentsfraktion der regierenden Partei der Regionen verringerte sich derweil stetig. Von mehreren Kabinettsmitgliedern hieß es, sie seien ins Ausland geflohen. Zu ihnen gehörte offenbar auch der vom Parlament abgesetzte Innenminister Witali Sachartschenko.
Mit Alexander Turtschinow, der als neuer Parlamentsvorsitzender zum Übergangspräsidenten wurde, sowie Arsen Awakow als Innenminister besetzte ihre Vaterlandspartei rasch Schlüsselposten. Auch die rechtsextreme Partei Swoboda wurde belohnt. Sie stellt seit dem Wochenende mit ihrem Abgeordneten Oleg Machnitzki den »Bevollmächtigten des Parlaments zur Kontrolle der Tätigkeit der Generalstaatsanwaltschaft«.
In einem nächsten Schritt will das Parlament eine Übergangsregierung bestimmen. Turtschinow forderte die Abgeordneten dazu auf, sich bis Dienstag auf ein »Kabinett des nationalen Vertrauens« zu einigen.
In eben jenem Charkiw im Osten, aus dem die bis dahin prominenteste Gefangene des Landes zurück in den Westen des Landes reiste, machte dann der aus der Hauptstadt verschwundene Präsident Viktor Janukowitsch Station. Informationen des Grenzschutzes machten die Runde, der entmachtete Präsident habe in einem Privatjet die Flucht aus dem östlichen Donezk versucht. Janukowitsch selbst versicherte in einem örtlichen Fernsehsender aber: »Ich werde das Land nicht verlassen, ich habe nicht vor zurückzutreten.« Das Parlament erklärte ihn aber am Samstag für abgesetzt. Er komme seinen Verpflichtungen nicht mehr nach, hieß es zur Begründung.
Delegierte aus dem prorussischen Osten und Süden der Ukraine versuchten ihm in Charkiw auf einem Kongress der »Ukrainischen Front« noch einmal den Rücken zu stärken. »Die Ereignisse in der ukrainischen Hauptstadt haben zur Lähmung der Zentralmacht und zur Destabilisierung der Regierung geführt«, erklärten die Vertreter örtlicher Regierungen und Parlamente. Das Parlament werde bei seiner Arbeit »durch Waffen und Mord bedroht«. Wie Janukowitsch sprachen Delegierte von einem Staatsstreich der Opposition. Dieser sei mit Hilfe der EU und der USA vollzogen worden.
In der Tat war ein bis zum Freitag unter dem Patronat von gleich drei EU-Außenministern und einem Sondergesandten des Kreml mühselig ausgehandelter Kompromiss zwischen Präsident und Opposition nur Stunden nach der Unterzeichnung gewissermaßen von den Ereignissen überrannt worden. Deutschland, Frankreich und Polen waren zwar als »Garanten« der Vereinbarungen aufgetreten, doch erinnerten sie sich daran nicht mehr.
Dafür freilich Russland. Dessen Außenminister Sergej Lawrow warf den ukrainischen Regierungsgegnern »Wortbruch und Unfähigkeit« vor. Die Opposition in Kiew habe sich in keiner Weise an den vereinbarten Plan für einen Weg aus der Krise gehalten, den sie mit Präsident Janukowitsch unterzeichnet habe, kritisierte er. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier rief er in einem Telefonat auf, seinen Einfluss auf die Regierungsgegner zu nutzen, um die Lage »sofort zu ändern«. Die Opposition werde von »bewaffneten Extremisten« angeführt, die stets neue Forderungen stellten.
Auch die Präsidenten der USA und Russlands, Barack Obama und Wladimir Putin, telefonierten miteinander und hatten noch auf eine rasche Umsetzung des Abkommens zur Überwindung der Krise in der Ukraine gedrungen. Nun sei eine Stabilisierung der Wirtschaft dringend nötig. Allerdings setzte Russland dann seine Milliardenhilfe erst einmal aus.
Auf dem Maidan, dessen Rat nach einigem Zögern dem Kompromiss am Freitag zugestimmt hatte, herrschte in der Nacht weiterhin Unwillen. Polizeikräfte zogen aber aus der Innenstadt ab. Sogenannte Selbstverteidigungskräfte der Regierungsgegner rückten in das Regierungsviertel vor. Sie postierten sich vor Parlament, Regierungssitz und Präsidialkanzlei. »Jetzt kontrolliert der Maidan ganz Kiew«, sagte der Kommandant des Maidan, Andrej Parubij, dann schon am Samstagmorgen. Die Sicherheitsorgane des Innenministeriums liefen zur Opposition über. Die Armee erklärte, sie werde sich nicht in den Machtkampf in der früheren Sowjetrepublik einmischen.
Am Wochenende erlebten dafür Hauptstädter bei Kiew ihre Version von Wandlitz. Geöffnet waren die Türen der Residenz Meschigorje und sie begutachteten das präsidiale Quartier. Ob es freilich künftig als Waisenhaus Verwendung findet, wie eine Besucherin anregte, dürfte getrost zu bezweifeln sein.
Das Parlament allerdings produzierte in einem schon ungestümen Staccato bereits im Niemandsland des Landes zwischen Macht und Ohnmacht Gesetz auf Gesetz. UDAR-Führer Vitali Klitschko verhinderte diesmal nicht mehr als Blockierer den Gang zum Rednerpult, sondern stand nun selbst wieder dahinter. Seine Werbekampagne bei der Hamburger Einzelhandelskette Tchibo für Fitnessprodukte wurde allerdings gestoppt. Dafür dürfte er wohl weiter Wahlkampf machen um das Präsidentenamt.
Zum Teil mit großem Eifer wurde eine besondere Abrechnung mit der Gegenwart und unmittelbaren Vergangenheit in Angriff genommen. So erreichten Forderungen nach einem Verbot der Partei der Regionen und der Kommunistischen Partei am Sonntag das Parlament in Kiew. In rund zwei Dutzend Städten stürzten Regierungsgegner Statuen des russischen Revolutionsführers und Gründers der UdSSR Wladimir Iljitsch Lenin - so in Tschernigow, Poltawa und Dnjepropetrowsk, auch in Kirowograd und in Wolhynien.
Aus Furcht vor antisemitischen Übergriffen forderte der ukrainische Rabbiner Moshe Reuven Asman die Juden zum Verlassen Kiews auf. »Ich habe meine Gemeinde aufgefordert, das Stadtzentrum und auch die ganze Stadt zu verlassen und wenn möglich auszureisen«, zitierte ihn die israelische Zeitung »Haaretz« am Wochenende. Israels Botschaft in Kiew warnte Juden ebenfalls davor, ihre Häuser zu verlassen. In den vergangenen Wochen waren laut Medienberichten Juden wiederholt auf offener Straße verprügelt worden.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.