Kein Herz für Behinderte

Barrierefreiheit hat in Frankreich noch immer noch keine Priorität

  • Andrea Klingsieck, Paris
  • Lesedauer: 3 Min.
Trotz eines Gesetzes geht der behindertengerechte Umbau von Ämtern, Läden und Schulen in Frankreich kaum voran.

Sei es beim Busfahren, beim Baguette kaufen oder dem Arztbesuch - viele Dinge des täglichen Lebens sind in Frankreich für Menschen mit Behinderungen oder eingeschränkter Mobilität keine Selbstverständlichkeit. Im Vergleich mit anderen europäischen Ländern liegt Frankreich im Umgang mit Behinderten immer noch weit zurück.

Der Französische Behindertenverband (APF) konzentrierte sich in seinem im Februar veröffentlichten Jahresbericht vor allem auf die Situation motorisch Behinderter. Die Bilanz fasst der Verband in einem Wort zusammen: »deprimierend«. Zwar haben zahlreiche Städte in den letzten Jahren guten Willen gezeigt, trotzdem sind nur die Hälfte der Geschäfte, Arztpraxen und Grundschulen für Menschen im Rollstuhl zugänglich. Für Mittelschulen (collèges) sinkt diese Quote auf 40 Prozent, für Gymnasien gar auf nur 20 Prozent.

Nicht einmal die Hälfte der Buslinien ist für Menschen mit Gehbehinderung benutzbar: Zwar sind inzwischen fast auf allen Linien Niederflurbusse oder solche mit ausfahrbarer Rampe unterwegs - allerdings ist die Mehrzahl der Haltestellen für diese nicht geeignet. In der Pariser Metro sind nur die neusten 16 von insgesamt 303 Stationen mit einem Aufzug ausgestattet. Wer den Vorortzug RER nehmen will, muss zuvor bei einem Mitarbeiter des Verkehrsbetriebs RATP Bescheid geben, damit dieser eine mobile Rampe zum Ein- oder Aussteigen befestigt. In Großstädten wie Marseille oder Toulouse gibt es spezielle Kleinbusse für Rollstuhlfahrer, doch müssen sie eine Woche im Voraus reserviert werden.

Dabei sah das 2005 verabschiedete Gesetz für Chancengleichheit zahlreiche Maßnahmen zum Barriereabbau vor, insbesondere für den Zugang zu öffentlichen Gebäuden, Schulen, Läden oder Dienstleistungseinrichtungen sowie zu den Transportmitteln. Den vorgegebenen Zeitraum von zehn Jahren, der 2015 endet, haben die Kommunen sehr unterschiedlich genutzt: Während in manchen Städten wie Nantes umfangreiche Umbauten durchgeführt wurden, haben andere noch nicht einmal mit der Ausschreibung für die Arbeiten begonnen. »Das Gesetz wurde weder durch ausreichende Finanzierungsmaßnahmen begleitet, noch sieht es ausreichend abschreckende Sanktionen vor«, bedauert Alain Rochon, Vorsitzender des Behindertenverbands APF.

Die für 2015 gesteckten Ziele sind so nicht zu erreichen, das musste inzwischen auch die Regierung eingestehen. Sie warf prompt die Flinte ins Korn und kündigte eine Verlängerung der Fristen an. Einzelhandel und Arztpraxen haben nun bis 2018 Zeit, um sich den Normen anzupassen; Rathäuser, Schulen und Hotelketten bis 2021. Den Transportunternehmen wurde gar eine neunjährige Fristverlängerung eingeräumt, also bis 2024. Im Falle der Nichteinhaltung der Verpflichtungen sind finanzielle Sanktionen vorgesehen.

Für die Verbände ist dieser Aufschub »inakzeptabel«. »Barrierefreiheit ist kein Luxus, sondern eine Investition zugunsten der gesamten Gesellschaft. Sie dient nicht nur Behinderten, sondern auch ältere Menschen, Verletzten oder Personen mit Kinderwagen«, erklärt Pascale Ribes vom APF. Das oft angeführte Argument zu hoher Kosten für die Umbauarbeiten weist der Verband zurück. Die staatseigene Investitionsbank Caisse des Dépôts et Consignations (CDC) habe den Gebietskörperschaften dafür Kredite über mehrere Milliarden Euro bereitgestellt, die nur zum Teil in Anspruch genommen wurden.

In Frankreich sind nach Angaben des APF gut zehn Millionen Menschen mehr oder weniger schwer von Behinderung betroffen. 2,3 Millionen von ihnen haben motorische Einschränkungen. Wenige Wochen vor den Kommunalwahlen scheinen ihre Stimmen jedoch kaum zu zählen.

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