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«La Suisse n’existe pas»

Die Schweiz kommt mit einem verblüffenden Lesebuch zur Leipziger Buchmesse

  • Uwe Stolzmann
  • Lesedauer: 4 Min.

La Suisse n’existe pas.« Schweizer Intellektuelle verstehen diesen frechen Spruch aus den Neunzigern gern positiv. Es gibt nicht nur eine Schweiz, so lautet ihre Lesart, sondern vier Schweizen. Vielleicht aber auch nur zwei, eine europäische und eine anti-europäische. Die eine hat vor ein paar Wochen über die andere gesiegt - mit 0,3 Prozent der Stimmen. »Gegen Masseneinwanderung« richtete sich die Abstimmung vom 9. Februar. Das hieß auf gut Deutsch: gegen Ausländer. Nun wuchern die Ressentiments. Das Land ist gespalten, die Stimmung rauh. Auch für jene Nachbarn, die schon vor Jahren zugewandert sind.

»deutschland könnte mal danke sagen für all die deutschen, die hier durchgefüttert werden.« Dies mailte eine Journalistin aus Bern an ihren Berliner Kollegen, wohnhaft in Innerrhoden. Die Deutschen sollten still auf sich selbst schauen, »da habt ihr genug«. Es kam auch andere Post von Schweizer Bekannten. »Ich schäme mich schrecklich«, mailte eine Freundin, angestellt in einem Berner Bundesamt. »Du hast hoffentlich gesehen, dass die französische Schweiz anders abgestimmt hat als die ländliche Deutschschweiz.«

In diesen Tagen, zur Leipziger Buchmesse, erleben wir eine wieder andere Schweiz. Die literarische Eidgenossenschaft. Sie hat etwas mitgebracht, das Lesebuch »Auftritt Schweiz«. Dieses Gastgeschenk ist ein Kleinod in Optik und Inhalt. Augenzwinkernd als Lexikon gestaltet, bietet das Buch Geschichten und Gedichte, Infos pur und Illustrationen. Der Reiseführer erlaubt den raschen Rundflug, aber auch die schweißtreibende Wanderung in die Tiefe fremder Berge. Das Werk präsentiere »eine moderne, fröhliche, bewegte Schweiz«, heißt es auf der Website des Projekts »Auftritt Schweiz«. Doch es tut mehr: Auf 200 Seiten zeigt das Büchlein die Schweiz in ihrer Zerrissenheit - ein großsprecherisches Land und ein kritisches.

Was ist typisch schweizerisch?, wollte die Herausgeberin wissen. Typisch ist offenbar der Wunsch, Rekorde herauszustellen, Erfindungen zum Beispiel. Kaiserschnitt (1500), Logarithmentafel (1588), Comic (1827), Beutelsuppe (Maggi, 1884), Alufolie (1912). Schweizer sind Weltmeister im Zugfahren, bewegen aber auch gern Luxusautos; 30 000 Porsches gibt’s im Land, »nirgendwo ist die Dichte höher«. Wollten wir das wissen? Typisch Schweiz sind Kuriosa wie Kantönligeist und »Combat de reines« (der Ringkampf der Kühe), Schwingen und Schießpflicht, der Röstigraben und der Glaube an das Phantom Wilhelm Tell. Noch 1991, so lesen wir, wurden Zweifel an Tells Existenz mit Morddrohungen quittiert. Bekannt ist: Die Schweiz gewährte ihren Bürgerinnen erst 1971 das Wahlrecht. (Dem Halbkanton Appenzell Innerrhoden wurde dieses Recht 1990 aufgezwungen.) Weniger bekannt: Das Schweizer Militär wollte nach 1945 Atombomben haben, fünfzig Stück, mit je drei- bis fünffacher Vernichtungskraft der Hiroshima-Bombe.

Zwischen knappen Notaten finden wir längere Texte, Prosa von Schriftstellern, kopiert aus ihren Erstausgaben - Wortmeldungen von Robert Walser, Melinda Nadj Abonji, Hohler und Hürlimann, Loetscher und Leutenegger. In diesen Texten zeigt sich die andere Schweiz: nachdenklich. »Für uns hat das Wort Ausland immer noch den Klang von Elend«, schrieb Peter Bichsel 1969 in »Des Schweizers Schweiz«. Und: »Wir leben in der Legende, die man um uns gemacht hat.« Es herrsche Angst vor Neuem. »Der innere Feind der Schweiz heißt pervertierter Bürgersinn. Die Igelstellung - eingerollt und die Stacheln nach außen - ist zum Sinnbild unserer Unabhängigkeit geworden. Aber auch der Igel muss sich zur Nahrungsaufnahme entrollen.«

Thomas Hürlimann berichtete 2002 über die »tumultuöse, teils handgreifliche Schlacht gegen Europa«, begonnen vom Populisten Christoph Blocher. »Blocher wird die Schweiz nicht übernehmen«, das hoffte der Dichter. »Er hat seinen Zenit überschritten.« Auch Dichter können irren. Von Max Frisch gibt’s im Buch nur ein Textlein über Davos in den späten Vierzigern. Schade, es hätte auch ein Beitrag aus den Sechzigern sein können, passend zur aktuellen Debatte: »Ein kleines Herrenvolk sieht sich in Gefahr: man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen. Sie fressen den Wohlstand nicht auf, im Gegenteil, sie sind für den Wohlstand unerlässlich. Aber sie sind da. Wäre das kleine Herrenvolk nicht bei sich selbst berühmt für seine Humanität und Toleranz und so weiter, der Umgang mit den fremden Arbeitskräften wäre leichter; man könnte sie in ordentlichen Lagern unterbringen, wo sie auch singen dürften, und sie würden nicht das Straßenbild überfremden.«

»Auftritt Schweiz« zwingt zum Nachdenken. Was kann man Besseres über ein Buch sagen?

Auftritt Schweiz. Das Lesebuch. Herausgegeben von Franziska Schläpfer. Verlag Scheidegger & Spiess. 204 S., 25 Abb., br., 25 €.

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