Neue Schlachtfelder
Bei den Paralympischen Spielen kämpfen immer mehr Kriegsversehrte um Medaillen
Der Appell von Waleri Suskewitsch vor der Eröffnung wird die Paralympics noch lange überdauern. »Die Paralympischen Spiele und Krieg sind unvereinbar«, sagte der Präsident der ukrainischen Delegation. »Ich möchte keine Sportler, die ihre Behinderungen im Krieg davongetragen haben. Das sind Verwundungen, die niemand braucht.« Ukrainische Sportler haben seitdem mit 20 Medaillen gegen die »russische Militärintervention« auf der Krim protestiert, ihre Siege widmen sie dem Frieden.
Am Sonntag gehen die ersten Weltspiele des Behindertensports in Russland zu Ende, sie waren ein Erfolg, organisatorisch und sportlich. Es waren leisere Spiele als 2010 in Vancouver und erst recht als jene 2012 in London. Und doch waren sie laut genug. Die Krim-Krise, die Diskussion um Menschenrechte in Russland: Die Paralympischen Komitees haben ausreichend Ansätze für eine Inventur ihrer Bewegung.
Die Vereinten Nationen haben 2006 Inklusion zum Ziel erhoben, die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderung. Es geht um Gemeinsamkeiten, nicht um Unterschiede. Die meisten Sportler werden durch Krankheiten und Unfälle aus ihrem Lebensrhythmus geworfen. Andere kommen mit einer Behinderung zur Welt. Doch zunehmend graben sich auch Kriege in die Biografien der Sportler.
Von den 80 Athleten der Vereinigten Staaten sind 16 Kriegsveteranen aus Irak oder Afghanistan, 2010 in Vancouver waren es noch fünf. Bei der Eröffnung in Sotschi durfte der Ex-Marinesoldat Jonathan Lujan die US-Flagge tragen, bei einem Einsatz in Kuwait wurde er schwer verletzt, seitdem sind seine Unterschenkel gelähmt. Auf der Internetseite des amerikanischen Teams schrieb Lujan, dass ihn die Emotionen überwältigt hätten: »Unsere Flagge hatte immer eine tiefe Bedeutung für mich.« Sein Großvater diente im Zweiten Weltkrieg, sein Onkel im Vietnam-Krieg, sein Vater war Polizist.
Die Äußerungen der Sportler ähneln sich, von Battlefields ist da manchmal die Rede, Schlachtfeldern also. In Kriegen - oder nun auf dem Eis. Am Samstag spielt das Schlittenhockeyteam der USA mit vier Versehrten gegen Russland um paralympisches Gold. Der Gastgeber hat einige Spieler dabei, die im Tschetschenienkrieg verwundet wurden.
Ist es gesund für die paralympische Bewegung, wenn sich militärische Sprache auf den Sport überträgt? Charlie Huebner, Chef des US-Teams, bezeichnet den Sport als Chance für ein neues Leben: »Unsere Athleten können Vorbilder werden. Sie zeigen, wie wichtig Sport für die Rehabilitation sein kann. Das führt uns zu den Wurzeln zurück.« Es war der deutsche Neurologe Ludwig Guttmann, der 1948 in England die ersten Wettbewerbe für behinderte Menschen organisiert hatte, mit Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg.
Auch die Briten haben ein Programm für Soldaten aufgelegt, die Kanadier und Israelis ebenfalls, aber niemand pflegt die Offensive so wie die US-Amerikaner. Fast 17 000 Behindertensportler haben ihre Verletzungen in Vietnam, Irak oder Afghanistan davon getragen, künftig werden bis zu 20 Prozent der Athleten aus Soldatenprogrammen stammen. Das dazugehörige Netzwerk wird von Wohltätigkeitsorganisationen und dem Verteidigungsministerium gestützt. Und es wird breit beworben, durch Zeitschriften, Werbevideos und einen jährlichen Wettbewerb: den »Warrior Games« in Colorado.
Karl Quade plädiert dafür, den Sport im Mittelpunkt des Denkens zu behalten. Der deutsche Chef de Mission weiß, dass es einen Heldenkult um Veteranen in Deutschland mit Blick auf die eigene Geschichte nicht geben kann. Dennoch baut der Deutsche Behindertensportverband (DBS) eine Kooperation mit der Bundeswehr auf. In deren Sportschule in Warendorf in der Nähe von Münster können behinderte Athleten eine hochwertige Ausstattung und Betreuung in Anspruch nehmen. In Sotschi profitiert von dieser Zusammenarbeit bislang nur der blinde Biathlet Willi Brem.
Im Gegenzug übernehmen sie wie ihre nichtbehinderten Kollegen repräsentative Aufgaben, den Soldatenstatus erhalten sie aber nicht. Für Quade ist die Partnerschaft ein Beleg für die wachsende Professionalisierung im Behindertensport.
Seit zwei Jahren können Versehrte in Warendorf an der »Sporttherapie nach Einsatzschädigung« teilnehmen. Viele leiden unter einer posttraumatischen Belastungsstörung, nach einer Diagnose wird für sie ein individueller Trainingsplan erarbeitet. Die Mehrheit betrachtet Sport als Teil der Rehabilitation, doch einige wollen an die Spitze: So hoffen die Afghanistanveteranen Maik Mutschke und Tim Focken auf einen Start bei den Sommerspielen 2016 in Rio de Janeiro. Das könnte erst der Anfang sein, glaubt Quade. Er will darauf achten, dass die Offensive moderat präsentiert wird, denn Sport dürfe nie zum Ersatzkrieg werden.
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