500 000 Milben pro »Himmelscheibe«

Ein Spezialkäse aus Würchwitz in Sachsen-Anhalt steht auf der Tipp-Liste der weltweiten Slow-Food-Bewegung

  • Sophia-Caroline Kosel, Würchwitz
  • Lesedauer: 3 Min.
Zehntausende kleine Tierchen krabbeln auf dem Käse, der in einem kleinen Dorf in Sachsen-Anhalt produziert wird. Sie können auch mitgegessen werden. Das ist aber nicht jedermanns Fall.

Die handtellergroßen runden Käsescheiben liegen in einer Weltkriegs-Munitionskiste im Dorf Würchwitz in Sachsen-Anhalt und sind mit viel braunem Mehl bedeckt. Legt man etwas Mehl unter ein Mikroskop, dann wird es lebendig: Dutzende gut erkennbare Spinnentiere krabbeln herum. Es sind Milben. 500 000 dieser 0,3 Millimeter kleinen Tiere befinden sich an einem Käse. »An diesem Käse sind mehr Milben als Sterne am Himmel«, sagt Helmut Pöschel, einst Biologie- und Chemielehrer und nun Rentner und Hersteller von »Würchwitzer Milbenkäse« - einer Rarität.

Die Delikatesse, die wohl nicht jedermanns Fall ist, verkauft er für zwölf Euro je Stück unter dem Label »Würchwitzer Himmelsscheibe«. Es handelt sich um einen Marketing-Schachzug, denn mit der berühmten Himmelsscheibe von Nebra hat der Käse nur die runde Form gemeinsam. Den Milbenkäse gibt es auch noch als »Bio-Rolle« und mit Holunderblüten.

Seit dem Mittelalter wird im Örtchen Würchwitz im Dreiländereck von Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen Käse mit Milben produziert. Heute können dies noch einige Familien, aber nur Pöschel verkauft die Spezialität auch. »Der Käse ist einwandfrei, da kommt kein anderer mit«, schwärmt Dorfbewohnerin Renate Baransky, die regelmäßig beim pensionierten Lehrer einkauft. »Mein Mann mag den Käse aber nicht.«

Genauso geteilt wie bei Familie Baransky sind die Meinungen im Internet. Die weltweite Slow-Food-Bewegung, die die Bewahrung der regionalen Geschmacksvielfalt fördert, hat eine Liste mit 36 kulinarischen Empfehlungen erstellt - von der schwäbischen Alblinse bis zum Würchwitzer Milbenkäse. Auf der Internet-Seite zehn.de hingegen zählt der »lebendigste Käse der Welt« zu den »zehn ekligsten Delikatessen der Welt«; zusammen mit gerösteten Vogelspinnen und tausendjährigen Eiern.

Grundlage für den Käse ist Magerquark - ohne Konservierungsstoffe; die mögen die Milben nicht. Die Käse-Rohlinge reifen monatelang in alten Kisten. 15 Grad Celsius und 100 Prozent Luftfeuchtigkeit sind Voraussetzung. »Wenn die Milben ausreißen, sterben sie - weil sie 100 Prozent Luftfeuchtigkeit brauchen«, berichtet der 68-Jährige. Die Tierchen knabbern den Käse an und fermentieren ihn. Damit sie ihn nicht ganz auffressen, muss Pöschel sie täglich mit Roggenmehl füttern. Zwischen einem halben und einem ganzen Jahr dauert es, bis der Käse fertig ist.

Die Käse-Kisten befinden sich in einem winzigen Raum in Pöschels Wohnhaus, daneben ist das Milbenkäsemuseum. Wer es besucht, muss durch die Küche des umtriebigen Chefs laufen. In Vitrinen befinden sich Milben aus Plüsch und Keramik, ein »Milbenstethoskop zum Abhören milbiger Tätigkeit«, eine riesige Milbenkäsezange aus dem 19. Jahrhundert und eine Urkunde, die beweist, dass der Würchwitzer Käse im Jahr 2003 in der Raumstation ISS war.

1000 Besucher kämen jährlich ins Museum und mehrere tausend Stück Käse verkaufe er im Jahr, berichtet Pöschel. Mit den Einnahmen finanziert er sein anderes Hobby: das Filmstudio Würchwitz - »das kleinste Filmstudio der Welt«. Mit Freunden, Bekannten und Prominenten produziert der 68-Jährige regelmäßig neue Folgen der »Würchwitzer Olsenbande«; nach dem Vorbild der dänischen Krimi-Filme mit dem charmanten Gauner-Trio Egon, Benny und Kjeld.

Das Würchwitzer Trio, das optisch den Dänen sehr ähnelt, wird in diesem Jahr seine fünfte Episode spielen. Sie heißt »Die Olsenbande und die Hand des Königs«. »Die Olsenbande klaut die Tageseinnahmen von David Garrett im Leipziger Gewandhaus, findet dabei die abgehackte Hand des Schwagers von Heinrich IV., verschleppt diese in die Schweiz und macht sie zu Geld«, berichtet Pöschel. In dem 60-Minuten-Film sollen auch ein echter Landrat und ein echter ehemaliger TV-Kommissar mitspielen. dpa/nd

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.