Scharfe Kritik an Massen-Todesurteil in Ägypten
Menschenrechtler und Politiker der Opposition kritisieren »Zeugnis von unglaublicher Willkür« / Liebich: Rückfall in alte Mubarak-Muster / Grüne: Bundesregierung muss Militär-Kooperation stoppen
Berlin. Politiker der Opposition und Menschenrechtler haben das Massen-Todesurteil in Ägypten gegen Anhänger des entmachten islamistischen Präsidenten Mohammed Mursi scharf kritisiert. Sie sei »schockiert über das Ausmaß der Repression«, sagte die Linken-Politikerin Christine Buchholz auf dem Kurznachrichtendienst Twitter, und forderte, die »Todesurteile müssen zurückgenommen« werden. Der Obmann der Linksfraktion im Auswärtigen Ausschuss des Bundestags, Stefan Liebich, sprach von einem »Zeugnis von unglaublicher Willkür und eklatantem Mangel an Demokratie in Ägypten«. Dem Land drohe »schon jetzt ein Rückfall in alte Mubarak-Muster, in denen Rechtsstaatlichkeit und Demokratie nichts galten«. Seine Partei lehne »Militärputsche ebenso ab wie Scheinprozesse gegen unliebsame politische Gegner«. Alle Ägypter müssten »das Recht auf faire Verhandlungen« haben, so Liebich. »Viele der Angeklagten gehörten der Mursi-Regierung an. Man kann diese Regierung und ihre Anhänger äußerst kritisch sehen, aber sie war demokratisch gewählt und wurde vom Militär unrechtmäßig aus dem Amt geputscht.«
Die Grünen-Bundestagsabgeordnete Franziska Brantner forderte, »sämtliche für dieses Jahr geplanten bilateralen Projekte der polizeilichen und militärischen Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Ägypten« auszusetzen oder auf Eis zu legen. Die Bundesregierung müsse nun »offenlegen, welche Strategie sie gegenüber Ägypten verfolgt. Gemeinsam mit der EU muss sie daneben der Führung in Kairo einmal mehr deutlich machen, dass finanzielle Direkthilfen und sonstige Formen der Kooperation an Voraussetzungen geknüpft sind«, so die Grünen-Politikerin. Mit solchen Verfahren werde »es in Ägypten keinen Frieden, keine Versöhnung und auch keine Demokratie geben; es muss endlich ein Prozess der nationalen Verständigung eingeleitet werden«, sagte Brantner.
Ruth Jüttner, Expertin für den Mittleren Osten bei Amnesty Deutschland, sagte, »bei den Todesurteilen handelt es sich um eine ungeheuerliche Ungerechtigkeit. Sie müssen unverzüglich aufgehoben werden.« Mit der Verhängung der Todesurteile in einem einzigen Verfahren und in dieser Größenordnung stelle Ägypten die meisten anderen Länder der Welt in den Schatten. Nach Angaben der Webseite »deathpenaltyworldwide« sind in Ägypten zwischen 1981 und 2000 insgesamt 709 Menschen zum Tode verurteilt und 248 von ihnen hingerichtet worden. Auch die Zahl der Angeklagten ist rekordverdächtig. Insgesamt bezog sich die Anklageschrift auf über 1200 Personen.
»Ägyptens Gerichte sind nicht nur vorschnell darin, Mursi-Anhänger zu bestrafen«, sagte Jüttner weiter. »Sie ignorieren gleichzeitig schwere Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitskräfte. Während Tausende von Mursi-Anhänger im Gefängnis sitzen, gab es bislang keine angemessene Untersuchung der Todesfälle von Hunderten von Demonstranten. Nur einem Polizeibeamten droht nach dem Tod von 37 Häftlingen eine Gefängnisstrafe.« Ohne einen unabhängigen und unparteiischen Prozess stehe die Frage im Raum, »ob die Strafjustiz in Ägypten noch irgendwas mit Gerechtigkeit zu tun hat. Die ägyptischen Behörden sollten ein Moratorium für Hinrichtungen verhängen und sie langfristig abschaffen«, so die AI-Expertin.
Auch ägyptische Menschenrechtler kritisierten das Urteil vom Montag scharf. »Selbst wenn es in der Berufung abgeändert werden wird, so wird dieses Katastrophenurteil einen Schatten auf die ägyptische Justiz werfen«, sagte Gamal Eid, der Direktor des Arabischen Netzwerks für Menschenrechtsinformationen (ANHRI), der Nachrichtenagentur dpa. »Das ist ein Massen-Todesurteil in einer Dimension, wie wir es vorher nirgends gesehen haben, weder in Ägypten noch sonstwo in der Welt«, erklärte auch die Nahost-Vizedirektorin von Amnesty International, Hassiba Hadj Sahraoui, der Nachrichtenagentur dpa. »Anstatt den Opfern von Menschenrechtsverletzung Genugtuung zu verschaffen, ist die Justiz zu einem Teil der Maschinerie geworden, um Menschen zu unterdrücken.«
Ein Gericht in Minia hatte am Montag gleich 529 Angeklagte unter anderem wegen Mordes zum Tode verurteilz. Es ist der Prozess mit der bisher höchsten Zahl von Todesurteilen in der Geschichte Ägyptens. 16 Angeklagte wurden nach Angaben der Justiz freigesprochen. dpa/nd
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.