Und schuld sind die Touristen
»achtung berlin« - das zweitgrößte Filmfestival der Hauptstadt feiert zehnten Geburtstag
Berlin sei nicht mehr die coolste Stadt der Welt, behaupten seit Kurzem die Medien und bauschen die Aussage eines US-amerikanischen Bloggers zur Affäre auf. Dass Berlin aber genügend Selbstbewusstsein hat, solch vermeintlichen Hiobsbotschaften zu trotzen, beweist unter anderem die anhaltende Popularität der Stadt als Schauplatz oder Produktionsort für das Kino. Eines der beiden Kriterien ist Voraussetzung, damit ein Film für »achtung berlin« nominiert wird. Das zweitgrößte Filmfestival der Hauptstadt feiert stolz sein zehnjähriges Bestehen und demonstriert mit 90 Werken - Kurz-, Dokumentar- und Spielfilmen - geballte Berliner Kinokraft.
Was ist, wenn Berlin und seine Bewohner gar nicht »in« sein wollen? Wie der stark boomende Tourismus der letzten Jahre die Stadt verändert, untersucht Nana A.T. Rebhans Dokumentarfilm »Welcome Goodbye«. »No more Rollkoffer« liest man auf den Häuserwänden von Szenebezirken, aufgesprüht von Berlinern, die sich vom so genannten »Easyjet-Set« und Benutzern von Ferienwohnungen überrannt fühlen. Auch unermüdliche asiatische Touristen, regelmäßige Hauptstadtbesucher und einen einheimischen Stadtführer porträtiert der Film. Zwischendurch kritisieren alteingesessene Berliner die Verdrängung aus der Innenstadt, während ein Tourismusmanager das Phänomen ignoriert.
Auch die Helden des Film Noir »Vergrabene Stimmen« lassen den Frust über ihr verpfuschtes Leben an Touristen aus. Zwischen dem Kottbusser Tor, dem Bezirksdreieck am »Molecule Man« und einem Friedhof verbringt der Ex-Knacki Kaan (Numan Acar, der auch Regie führte) in der Freiheit seine Zeit. Aufgefangen wird er in Berlin von niemandem und rutscht wieder ab in die Kriminalität. Der raffiniert erzählte, kontemplative und düstere Genre-Film besticht durch gute Musik und wird von Traumsequenzen und hektischen Bilderabfolgen beflügelt, wenn der Held auf einem Drogentrip ist.
Dass »Vergrabene Stimmen« unabhängig produziert wurde, ist typisch für »achtung berlin«. Das Festival ist bekannt dafür, jungen Regietalenten wie den Brüdern Jakob und Tom Lass oder Axel Ranisch ein Plattform für ihre Low- oder No-Budget-Filme zu bieten. So präsentiert der 2013 preisgekrönte 31-jährige Regisseur Nico Sommer (»Silvi«) dieses Jahr sein Drama »Familienfieber«. Es wurde in sieben Tagen in Berlin und Brandenburg gedreht, basiert auf einem dreiseitigen Skript und setzt auf Improvisation. Zwei Paare um die fünfzig, deren Kinder ebenfalls ein Paar bilden, verbringen ein schicksalhaftes Wochenende in einem Brandenburger Schloss: Zwei von ihnen betrügen ihren Partner mit dem Partner des/der anderen. Routine, Feigheit und Vergebung sind die Themen des Films, der so viel Humor wie möglich aus der verfahrenen Situation schlägt und vor allem die Männer als Weicheier entlarvt. Mit dem tragikomischen Peter Trabner spielt darin ein weiterer Stammgast des Festivals eine der Hauptrollen.
Eine Tendenz des diesjährigen Festivals sei, dass die Filmemacher ihre Region Berlin-Brandenburg in die ganze Welt trügen, sagt Festivaldirektor Hajo Schäfer. So inszeniert der DFFB-Absolvent Samuel Perriard mit »Schwarzer Panther« ein beeindruckendes, anrührendes Bruder-Schwester-Drama vor dem Hintergrund der Schweizer Alpen. Der junge Regisseur vertraut seinen Bildern: Die mal kargen, mal bedrohlichen, mal prächtigen Berge spiegeln die unerfüllbaren Sehnsüchte der Geschwister, die eine kurze Zeit intensiver Intimität miteinander teilen.
Die deutsche Regisseurin Mo Asumang wiederum ist Tochter eines Ghanaers und fragt angesichts selbst erlebter Diskriminierung in ihrer Doku: Wer sind eigentlich »Die Arier«? Dabei interviewt sie aggressive deutsche Neonazis, trifft in Iran aber auch die etymologisch und ethnisch wahren »Arier«. Sie entpuppen sich als weltoffene, gütige Leute, die sich für die Gleichbehandlung aller Menschen aussprechen. Angst und bange wird einem, wenn die mutige Filmemacherin an einem abgeschiedenen Ort im provinziellsten Amerika ein Interview mit Mitgliedern des Ku-Klux-Klan wagt, und man schüttelt sich, wenn der »White-Aryan-Resistance«-Rassist Tom Metzger doziert, dass Asumangs afrikanischer Vater ein »Gen-Entführer« sei.
Die Retrospektive »Berlin im Film der 90er Jahre« bietet ein Wiedersehen mit Klassikern wie Michael Kliers »Ostkreuz«, Thomas Arslans »Geschwister« oder R. P. Kahls »Angel Express«. Sie bezeugen den Wandel der Stadt in den letzten 25 Jahren und stehen für das, was »achtung berlin« auszeichnet: ein Festival, das Berlin kritisch erforscht, aber auch feiert.
Vom 9. bis 16. 4. in den Kinos Babylon (Mitte), International, Passage, Filmtheater am Friedrichshain u.a.
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