Der Markt schreibt die Gesetze

Medienethik - mehr als Gewissensberuhigung?

  • Gerhard Schweppenhäuser
  • Lesedauer: 7 Min.

Im letzten Herbst brach in den Massenmedien eine Sturmflut aus Hohn und Spott über den Bischof von Limburg herein. Sein luxuriöser Amtssitz passte nicht zur neuen römischen Bescheidenheit. Auch Alexander Filipovic, der kurz zuvor an der katholischen Hochschule für Philosophie in München zum bundesweit ersten Professor für das Fach »Medienethik« berufen worden war, meldete sich zu Wort. Der ganze Wirbel sei »ein medienethisches Lehrstück«, sagte er der Würzburger Mainpost (23.10.13). Es zeige, was »Medien gut machen können«, aber auch »das Schlechte«: Recherche und Öffentlichkeit sind gut, »Überberichterstattung« und Skandalisierung sind schlecht.

Über den Fall des Bischofs kann man schmunzeln. Und dass der Vertreter einer katholischen Hochschule die Kritiker mahnt, sich zu mäßigen, ist so überraschend, wie wenn ein Sprecher des Unternehmerverbandes im Tarifstreit Zurückhaltung bei Lohnforderungen empfiehlt. Doch wie dem auch sei: In der Medienwelt wimmelt es von skrupellosem Skandaljournalismus, korrupten Mogulen, enthemmter Selbstdarstellung, Rufmord und Mobbing. Schreien solche Phänomene nicht geradezu danach, unter fachkundiger Anleitung darüber nachzudenken, ob es zeitgemäße Normen und Werte gibt, an denen sich alle Akteure orientieren können? Alle - also nicht nur Macher, sondern auch Verbreiter und Nutzer massenmedialer Angebote?

Medienethik fragt nach solchen Normen und Werten. Sie untersucht die moralischen Standards medialer Kommunikation. Das ist ein relativ neues Arbeitsgebiet der Philosophie. In der akademischen Welt, aber auch in den Massenmedien, wird es immer stärker wahrgenommen. Dass in München sogar eine Stiftungsprofessur für die junge Disziplin eingerichtet wurde, sorgte für weitere Aufmerksamkeit.

Medienethiker wie der Philosoph Rüdiger Funiok - ein weithin anerkannter Fachmann, ebenfalls von der Münchner Hochschule für Philosophie - wollen nicht nur wertfrei beschreiben, was in den Massenmedien vor sich geht. Sie wollen Maßstäbe formulieren, mit denen man vernünftig begründen kann, was geht - und was mit guten Gründen der moralischen Verachtung verfällt. Gesucht werden Kriterien für eine normative Ethik der Praxis in den Massenmedien. Wer Medien produziert, verbreitet und nutzt, soll an die Verpflichtung zu verantwortungsbewusstem Handeln erinnert werden.

Nun ist es keineswegs so, als hätte man sich hier bisher auf moralfreiem Terrain bewegt. Der Ethikkodex des Deutschen Presserats zum Beispiel sieht in der »Pflicht, im Rahmen der Verfassung und der verfassungskonformen Gesetze das Ansehen der Presse zu wahren«, die vornehmste Aufgabe einer »Berufsethik der Presse«. Aber dafür sieht er einen strikt individualethischen Rahmen vor. Aus der Sicht von Rüdiger Funiok kommen dabei bestenfalls unzureichende Appelle an das Verantwortungsgefühl einzelner heraus. Daher pocht Funiok darauf, dass Medienethik eine sozialethische Perspektive einnimmt und auch die politische Dimension nicht übersieht.

Seit der Französischen Revolution ist die soziale Funktion der Massenmedien »die kommunikative Legitimierung von politischer Autorität«, so Funiok. Denn Herrschaft sei nur gerechtfertigt, wenn sie einen öffentlichen Raum für freie Debatten über Politik, Gesellschaft, Wissenschaft und Kultur bereitstellt und schützt. Politik und Moral werden hier über die Sphäre der Öffentlichkeit verbunden. Der höchste Wert, durch den Verantwortung letztlich konkreten Sinn erhält, ist in der Medienethik also demokratische Öffentlichkeit, die oberste Instanz für moralische Orientierung. Darauf setzt auch Filipovic: »Transparenz ist ein sehr hohes Gut in der Mediengesellschaft.«

Der »Entscheidungsspielraum« einzelner Medienakteure ist »entscheidend vom strukturellen und organisatorischen Kontext bestimmt«, wissen Funiok und andere Medienethiker. Daher ist Medienethik Teil der Sozialethik. Der soziale Rahmen der Medien ist freilich auch ein ökonomischer. Darüber sind sich die Medienethiker zwar im Klaren, aber sie stellen die ökonomischen Bedingungen nicht radikal in Frage. Demokratische Öffentlichkeit ist auch eine Frage der Marktfreiheit. Der Markt jedoch ist höchst ambivalent: Er ist der Ort konkurrierender Angebote, aber gerade deshalb zwingt er zur Konzentration und Zusammenballung von Macht. Man weiß, dass dies auch (und gerade) bei den Massenmedien der Fall ist.

Ein Blick auf die Dialektik im Begriff der bürgerlichen Öffentlichkeit zeigt, wie wackelig das Fundament des medienethischen Ansatzes ist. Bücher, Zeitungspresse und Theater waren im 18. Jahrhundert privatwirtschaftliche Medien einer »räsonierenden Öffentlichkeit« (Kant). Als zensurfreie Zone für mündige Bürger war Öffentlichkeit nicht ohne Gewerbefreiheit denkbar. Diderots Enzyklopädie wurde mit modernstem Marketing, mit Subskription und Haustürverkauf verbreitet. Politische Streitschriften waren Bestseller der Französischen Revolution. Seit 1789 sollten Menschenrechte, Toleranz, Steuergerechtigkeit und gerechte Behandlung der Landarbeiter gelten. »Menschenrecht« war in erster Linie das Recht mündiger, männlicher Bürger auf Eigentum und freie Ausübung der Religion sowie die Presse- und Meinungsfreiheit.

»Öffentlichkeit« förderte emanzipatorische Ideen; gleichzeitig war sie ein Projekt zur Vermehrung der Profite derer, die sich auf diesen neuen Markt wagten. Unternehmer trugen zur Entfaltung aufklärerisch-demokratischer Gedanken mit neuen Medien bei; für die waren freilich nicht Inhalte relevant, sondern ihre Warenform. Die Marktgesetze waren Geburtshelfer der bürgerlichen Öffentlichkeit. »Raisonnement« und »Konsum« waren von Anfang an Bestandteile dieser neuen Sphäre. Der Schweizer Philosoph Arnold Künzli hat das einmal so formuliert: Die Eintrittskarte zur liberalen Öffentlichkeit »war das private Eigentum, und damit wurde Öffentlichkeit zu einem Klassenbegriff des Bürgertums«.

Im 19. Jahrhundert wurden wesentliche Ziele der bürgerlichen Revolution erreicht; der Handel dehnte sich aus, mit Tendenz zum Weltmarkt. Design und Werbung wurden Schrittmacher der Massenproduktion, die Massenpresse ihr wichtigstes Medium. Auf der politischen Agenda standen bald nicht mehr die Menschenrechte, sondern Kolonialismus und imperialistische Hegemonie.

Im 20. Jahrhundert beförderten Massenmedien nicht nur den Konsum und die Begeisterung für autoritäre Führer und Kriege; sie schufen auch noch Räume zur kritischen Urteilsbildung freier Bürger. Dies entsprach der »Verantwortung der Presse gegenüber der Öffentlichkeit«, die der Presse-Ethikkodex einfordert. Mittlerweile bewegen sich große Teile von Presse, Rundfunk, Fernsehen und Internet in andere Richtungen. Aber nicht aufgrund moralischer Verkommenheit der Macher und Nutzer. Der mediale Raum ist eben primär keine Lehranstalt für soziales Verantwortungsbewusstsein. Er ist ein Marktplatz für Unterhaltungs- und Informationswaren aller Art sowie für ökonomische und politische Propaganda. Im Italienischen ist pubblicitá das Wort für Werbung.

Dagegen dürften die sozialmoralischen Verantwortungsappelle der Medienethik nicht viel ausrichten. Mit »Verantwortung« lässt sich fast alles irgendwie rechtfertigen. Wir klagen über manipulativen Journalismus - aber tragen die Besitzer der Medien-Produktionsmittel etwa keine soziale Verantwortung für die Erhaltung der Arbeitsplätze? Folgt daraus nicht die Pflicht, viele Zuschauer und Leser anzuziehen, damit man Aufträge der Werbewirtschaft behält? »Die Presse verzichtet auf eine unangemessen sensationelle Darstellung von Gewalt, Brutalität und Leid«, behauptet der Ethikkodex des Presserats. Doch was ist die »angemessen sensationelle Darstellung«?

Der Logik des Marktes wird die Ethik der »Selbstverpflichtung« gegenübergestellt. Sie wird mit dem Verweis auf die demokratische Verantwortung begründet. Und die wiederum sei nur über eine kritische bürgerliche Öffentlichkeit zu gewährleisten. Denn, wie gesagt, für Medienethiker besteht die soziale Funktion der Medien in der »kommunikativen Legitimierung politischer Autorität«. Demokratie ist jedoch eine moralisch neutrale Form der Verwaltung und Herrschaft. Ihre Öffentlichkeit ist die Erscheinungsform der ökonomischen Privatsphäre. Sie dient dazu, demokratische Herrschaft durch Zustimmung der Beherrschten zu legitimieren, indem Kritik auf bloße Meinung reduziert und der Pluralismus der Meinungen zum Heiligtum erklärt wird.

Ein Pluralismus, der freilich nach Kräften manipuliert werden darf. So empfiehlt der Medienethiker Filipovic der katholischen Kirche, mit einer »verstärkten, zentralen« und vor allem »professionellen Kommunikationsstrategie« gegen ihren Image-Schaden anzugehen. Verantwortung übernehmen - das scheint in der Kirchenpolitik darauf hinauszulaufen, dass man einerseits Fehler zugibt, wenn sie nicht mehr geleugnet werden können, und andererseits kräftig PR betreibt, um Boden zurückzugewinnen.

Praktisch-kritische Medienethik muss mehr sein als das schlechte Gewissen strategischer PR. Sie muss verweigern und umnutzen, die Kanäle boykottieren und infiltrieren. Medienpolitik sollte nicht staatliche Geschäftsführung der medialen Produktionsmittel im Privatbesitz sein, sondern selbstorganisierte Praxis. »Gegenöffentlichkeit« nannten Oskar Negt und Alexander Kluge das vor 40 Jahren. Es würde sich lohnen, darüber nachzudenken, was es heute damit auf sich hat. Das würde der radikalen Aufklärung des 18. Jahrhunderts neue Ehre machen.

Gerhard Schweppenhäuser ist Professor für Design-, Kommunikations- und Medientheorie in Würzburg. Im Herbst 2014 publiziert die »Zeitschrift für kritische Theorie« seine Abhandlung über Medienethik, in der die hier vorgestellten Thesen ausführlich begründet werden.

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