Unerhörter Dienst an einem Freund
Judas kein Verräter?
Warum hat eigentlich niemand ernsthaft darüber nachgedacht, wie ungewöhnlich der Kuss des Judas bei Jesu Festnahme im Garten, bzw. im Landgut Getsemani war? Es könnte ja auch eine ganz andere Bewandtnis damit gehabt haben, sagt Leo G. Linder, und dieser Kuss ist, was viel eher zu vermuten wäre, ein letzter Freundeskuss, ein Bruderkuss beim bitteren Abschied gewesen.
Nur wenige Personen der Bibel haben die Literatur so viel beschäftigt wie die des zwölften Jüngers und vermeintlichen Verräters Judas Iskariot. Der habe seinen Herrn und Meister Jesus aus niederen Beweggründen, vor allem aus Geldgier, ans Kreuz geliefert, so lautete die alte kirchliche Aussage. Im Mittelalter wurde Judas zudem zur Spottfigur des »geldgierigen Juden«. Zwar ist Judas Iskariot heute längst zum politisch enttäuschten Anhänger Jesu mutiert, das Grundmuster des Verräters blieb und mit ihm der sprichwörtlich gewordene »Judaskuss«.
»Um Judas betrogen?« hat Linder das Eingangskapitel überschrieben, in dem er auf einige bekannte, sehr verschiedene literarische Deutungen der Judasgestalt eingeht und damit nicht nur zum Wiederlesen anregt, sondern auch eigenes intensives Bemühen um den Stoff verdeutlicht - unter anderen sind das Bulgakows sehr freier Umgang mit der Figur in »Der Meister und Margarita«, Nicos Kazantzakis’ Buch »Die letzte Versuchung« oder »Der Fall Judas« von Walter Jens. So berechtigt die freie Deutung des Judas ist, Linder ist von dem Grundmuster des Verräters nicht überzeugt. Und da tut er eigentlich das Nächstliegende, er nimmt die ihm zur Verfügung stehenden wichtigen Quellen, die vier Evangelisten-Berichte, unter die Lupe.
Leo G. Linder hat ein so einfaches wie geschicktes Muster gefunden, um das dramatische Passionsgeschehen neu aufzurollen. Er erfindet einen Ermittler, der die Berichterstatter Markus, Matthäus, Lukas und Johannes fiktiven Verhören unterzieht. Deren Aussagen sind widersprüchlich, sie scheinen Dinge zu verschleiern oder zu verschweigen. Erstaunlich ist schon, dass außer Johannes keiner davon spricht, Judas habe Jesus »verraten«, immer ist nur von »ausgeliefert« die Rede. Warum ließen die Jünger Judas nach der sogenannten »Entlarvungsszene« beim letzten Abendmahl unbehelligt weggehen? Warum hieb Petrus dem Soldaten der Verhaftungstruppe in Getsemani das Ohr ab und ließ Judas unbeschadet davonkommen? Fragen über Fragen, die Linder zur Schlussfolgerung führen, Judas, der Verschwiegene, sei Jesus ganz besonders nah gewesen und so für ihn zum Komplizen in seinem messianischen Plan eines öffentlichen, inszenierten Todes geworden.
Zweimal lädt der Ermittler die Zeugen vor, einmal zum »Fall Judas«, ein weiteres Mal zum »Fall Jesus«. Im ersten sind die Ermittlungsergebnisse frappierend, im zweiten eine weniger überzeugende Gratwanderung zwischen Theologie und Literatur. Die Literatur aber hat das Recht der Vieldeutigkeit und Rätselhaftigkeit auf ihrer Seite.
Leo G. Linder: Judas, der Komplize. Die Wahrheit über den zwölften Jünger. Gütersloher Verlagshaus. 222 S., geb., 19,99 €.
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