Lauter unsichere Kantonisten
In Nordrhein-Westfalen speichert der Verfassungsschutz die Daten jedes 33. Bürgers
17,6 Millionen Menschen leben in Nordrhein-Westfalen, rund eine halbe Million wird vom dortigen Geheimdienst überwacht. Der Verfassungsschutz - im einwohnerstärksten Bundesland keine eigenständige Behörde, sondern eine Abteilung des SPD-geführten NRW-Innenministeriums - erfasst in der einen oder anderen Form Daten über gut 530 000 Menschen, darunter rund 30 000 »Extremisten«. So viele Personen werden derzeit in der Amtsdatei des NRW-Verfassungsschutzes geführt, teilte NRW-Innenminister Ralf Jäger (SPD) auf eine Kleine Anfrage der Piraten-Fraktion im Landtag mit.
Mehr als eine halbe Million vom Geheimdienst Erfasste? »Das ist durchaus kein Skandal«, beteuert Jägers Pressesprecher Ludger Harmeier gegenüber »nd«. Unter den 530 000 Menschen, die von Amts wegen einem mit eigenem Datensatz gewürdigt werden, befänden sich allein eine halbe Million »Sicherheitsüberwachte« - Menschen die in sensiblen Bereichen von Wirtschaft und Staat arbeiten und die daher in der Amtsdatei des Geheimdienstes landeten. »Sie werden gegebenenfalls auch über einen längeren Zeitraum in der Datei geführt, weil sich im Laufe der Jahre ja neue Erkenntnisse über ihre Zuverlässigkeit ergeben können.« So erkläre sich die hohe Zahl.
Alles ganz harmlos also? Fakt ist: Exakt 498 598 Personen werden in der nordrhein-westfälischen Geheimdienst-Datei erfasst, die allesamt völlig unbestritten nicht in konkretem Verdacht stehen, »Rechtsextremist«, »Linksextremist«, »Ausländerextremist«, »Islamist« oder gar »Terrorist« mit amtlichem Stempel zu sein. Darunter befinden sich - »Sicherheitsrelevanz« unterliegt dem Zeitgeist! - seit einigen Jahren auch einfache Flughafen-Mitarbeiter. Während bundesweit pro 67 Bürgern ein solcher Datensatz anfällt, wird in NRW einer von 33 Einwohnern als sicherheitsrelevant erfasst.
»Diese erschreckend hohe Zahl zeugt von einer Entwicklung hin zur Massenerfassung und Massenüberwachung«, ärgert sich Frank Herrmann, innenpolitischer Sprecher der Piraten im NRW-Landtag. Zunehmend speichere der Geheimdienst auch »Menschen wie dich und mich ab«, moniert der Abgeordnete und macht eine steigende Sicherheitshysterie auf Kosten der Privatsphäre hunderttausender Menschen aus. Der Verfassungsschutz habe im Zusammenhang mit NSU und NSA komplett versagt, bekomme aber auch in NRW immer neue Aufgaben zugeteilt. Dabei finde eine effektive Kontrolle des Geheimdienstes nicht statt - wie allein die ausufernde Zahl der Überwachten belege.
Ob die Aufgabenfülle eine gute Idee ist, darin sind in der Tat Zweifel angebracht. Schon bei den Kernkompetenzen hapert es. Der nordrhein-westfälische Verfassungsschutz habe Jahrzehnte lang den Landesverband der NPD »grundfinanziert«, pflegt dessen Ex-Vorsitzender Wolfgang Frenz zu schmunzeln. Ein gutes Dritteljahrhundert diente Nazi Frenz den Schlapphüten als vermeintlicher V-Mann, will aber nur Nichtigkeiten ausgeplaudert haben. Seine Honorare vom Staat investierte Frenz nach eigenen Angaben in den Aufbau der braunen Partei.
2012 wurde öffentlich, dass der NRW-Verfassungsschutz einen Polizeikommissar für sich arbeiten ließ, der offenbar radikaler Islamist war. Der damals 31-Jährige observierte ausgerechnet radikale Islamisten und soll auch Zugang zu vertraulichen Dokumenten gehabt haben.
Die Linkspartei darf sich rühmen, zu den dauerhaften Beobachtungsobjekten der Behörde zu zählen: Ihrem NRW-Landesverband warfen die angeblichen Hüter der Verfassung vor vier Jahren die Nutzung des Adjektivs »rational« vor. »Rational« entstamme nämlich dem »marxistisch-leninistischem Sprachgebrauch« und lasse »auch die Forderung nach einer realsozialistischen Planwirtschaft denkbar erscheinen«. Eine denkbar erscheinende Forderung? Achtung, »Linksextremisten«!
Sind die sensiblen Daten hunderttausender meist unbescholtener Bürger wirklich in guten Händen - bei einem Amt, das solchen Murks fabriziert? »Bisher ist nur die Spitze eines Datenberges erkennbar«, betont Pirat Herrmann und beklagt die mangelnde Transparenz der Mutterbehörde, des NRW-Innenministeriums also. »Das Ministerium wollte uns nicht wirklich informieren, und deshalb fehlen konkrete und übersichtliche Angaben.«
Frank Herrmann hält das für problematisch: »Wir wissen aus Niedersachsen, dass Journalisten in den Dateien geführt wurden. Wir können nur vermuten, dass sich in den Dateien des NRW-Verfassungsschutzes viele unschuldige Bürger oder auch Kritiker befinden.« Zu polizeilichen Datensammlungen habe das Jäger-Ministerium gleich gar keinen Überblick. »Das geht so nicht«, ärgert sich der Innenpolitiker.
Doch in anderen Bundesländern steht es in Sachen Transparenz noch schlechter, wie eine »nd«-Anfrage an die Verfassungsschutzämter Deutschlands ergab. Konkrete Fragen zu Amtsdateien und Datensammelpraxis wurden meist völlig ausweichend beantwortet, gleich gänzlich beschwiegen oder werden - nämlich in Sachsen-Anhalt - seit zwei Wochen »intensiv geprüft«.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.