Irische Begeisterung in Rosa
Die ersten drei Etappen des Giro d'Italia durch Irland werden von Marcel Kittel dominiert
Die Konstellation ist gewagt. Inmitten der rostroten Stahlpfeiler, die die Außenhülle der »Titanic« markieren, die vor 102 Jahren an dieser Stelle von Belfaster Werftarbeitern erbaut wurde, errichtete der Giro d'Italia das Startdorf der ersten beiden Etappen. Nur wenige Pedalumdrehungen entfernt konnte man im neu errichteten Museumskomplex den Untergang des Luxusliners multimedial erfahren. Dieses etwas bizarre Spiel mit der Katastrophe zeitigte nur beim Lokalmatadoren Dan Martin böse Folgen: Sturz, Schlüsselbeinbruch und ab ins Krankenhaus schon beim Mannschaftszeitfahren zum Giro-Auftakt.
Marcel Kittel ließ sich nicht vom Fluch des Unglücksschiffes beunruhigen. Der Thüringer holte sich auf der zweiten Etappe über 219 Kilometer am Sonnabend in Belfast seinen ersten Sieg beim Giro. Am Sonntag feierte der Kapitän des Teams Giant-Shimano auf der dritten Etappe (187 km) in Dublin seinen zweiten Erfolg und machte sich an seinem 26. Geburtstag selbst das größte Geschenk. »Der Erwartungsdruck war schon groß«, gestand er ein, »aber ich bin keiner, der dann zusammenbricht. Mich stimuliert das sogar.«
Kittel hatte ziemlich zu kämpfen beim ersten Triumph, der ihm zugleich das rote Punktetrikot als Bester in der Sprinterwertung bescherte, das er am Sonntag verteidigte. »Es war ein ziemliches Durcheinander im Finale. Ich hatte meine Mannschaftskollegen verloren und musste aus der siebten, achten Position den Spurt anziehen«, schilderte er.
Einen Anteil daran hatte auch das für Irland typische Regenwetter. »Jeder war unter diesen Bedingungen müde und kaputt. Man spürt die Finger nicht mehr so. Es war eigentlich ein Wunder, dass wir ohne zu stürzen um die letzte Kurve herumgekommen sind«, meinte Kittel.
Die Witterungsbedingungen sorgten für etwas Unmut im Peloton. »Bei solch einem Wetter willst du eigentlich gar nicht raus. Das fühlt sich auch nicht nach Giro an«, grummelte Danilo Hondo. Der gebürtige Gubener war andererseits vom Publikumszuspruch schwer begeistert. »Die Leute hier geben am Straßenrand alles. Man hat den Eindruck, dass das Rennen für sie etwas ganz Besonderes ist«, meinte er. Seine Schlussfolgerung: »Dem müssen wir gerecht werden und uns ebenfalls anstrengen.« So war denn zu beobachten, dass trotz allen Wassers von oben die Stimmung der Fahrer erstaunlich gut war.
Die irische Bevölkerung ließ sich von den widrigen meteorologischen Bedingungen ohnehin nicht schrecken. Sie hatte rosa Farbe auf die Kleidung, die Fahrräder, die Hausfassaden, ja selbst auf Gesichter und Haare aufgebracht und trug die Pigmente selbst in verlaufendem Zustand noch wie Ehrenzeichen. »Der Giro ist eine große Sache für uns. Er ist ein Zeichen, dass wir die Vergangenheit überwunden haben«, sagte Claire, von Beruf Psychologin, beim abendlichen Gin in einer Kneipe im Zentrum Belfasts. An das heutzutage lebhafte Treiben ringsum hätte vor 20 Jahren noch niemand denken können, meinte sie. »Vor 20 Jahren gab es kaum Pubs. Vor den wenigen, die es gab, standen Wachleute, die dich kontrollierten und auch deine Taschen durchsuchten«, erinnert sie sich - alles aus Angst vor Bombenattentaten.
Die Hingabe an ein Sportevent wie den Giro d'Italia mutet also wie ein Ritual an, die düstere Vergangenheit hinter sich zu lassen. Selbst Bürgermeister Máirtín Ó Muilleoir färbte sich das Haar rosa. Der Mann kommt von der der IRA nahestehenden Sinn Fein-Partei - welch ein Wandel.
Nordirland ließ sich das Giro-Spektakel einiges kosten: 5,1 Millionen Euro wandte das Tourismusministerium auf. Beim Giro-Start des vergangenen Jahres musste Neapel nur 800 000 Euro berappen.
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