Das gebrochene Schweigen
»Im Erlebensfall« - ein Essayband zum 80. Geburtstag von Adolf Muschg
Vor Felswänden verengt sich die Welt, an ozeanischen Stränden weitet sie sich. Das gibt der Schweiz einen merkwürdig schillernden Charakter zwischen gequält geschlossener Gesellschaft und bohrender Sehnsucht nach Öffnung, zwischen aggressivem Binnenstolz und flatternden Fluchtträumen. Max Frisch schrieb von »Schweizer Zwangsneurosen, ständig Freiheit mit Fessel zu verwechseln«, Friedrich Dürrenmatt sah »alpine Souveränität und stubenfeine Biederkeit« als »Komplementärpaar des Gesellschaftlichen hierzulande«, und Adolf Muschg sieht im prononciert behaupteten nationalen Selbstbewusstsein der Eidgenossen oft genug nur den »Deckmantel für einen Mangel an Entwicklungsbereitschaft«.
Muschg, der am heutigen Dienstag 80 Jahre alt wird, gehört zu den kritischsten Köpfen seines Landes - der langjährige Sprach- und Literaturprofessor in Zürich sowie Präsident der Akademie der Künste Berlin (2003 bis 2006) hat jetzt mit »Erlebensfall« eine Sammlung Essays veröffentlicht; ein euphorischer Europäer, geschlagen freilich mit dem Schicksal jeder Euphorie - sie stößt auf den Widerspruch des politischen Pragmatismus, der kleinbürgerlichen Relativierungen und sicherheitsbedürftigen Zaghaftigkeiten. Diese Euphorie trifft auf Ablehnung, weil sie eine fragend zweifelnde bleibt. Europa ist ein Patient, dem wenig fehlt - »er hat nur ein Problem: Er weiß nicht, wer er ist.« Und freilich könnte Europa, geboren aus Gewalt - über die Jahrhunderte immer wieder in Feuer getaucht und aus der Asche in einen mühsamen Frieden gerettet - eines kommenden Tages erneut zum Zentrum der Gewalt werden. Wenn das leere Stroh der Sonntagsreden von Gemeinschaft und Gewinn in Flammen der Empörung aufgeht, einer Empörung darüber, wie die sozialen Mauern schneller und höher wachsen als die Bäume der Versprechungen in den Himmel, der längst wieder ein zerrissener sein wird. Muschg ist kein Apokalyptiker, aber an die verlässliche Verbindung von Geschichte und moralisch-ethischer Befestigung der Welt kann er nicht glauben.
Der Sohn eines so wohlhabenden wie strengen Pietisten aus Zollikon greift schon in jungen Jahren zur großen »Rettungsphantasie« seines Daseins: zur Kunst. Denn der Vater stirbt früh, so erweisen sich Lesen und Fabulieren als Hilfe zur Selbsthilfe - beim Leben mit einer Mutter, die von schweren Verzweiflungsschüben gefoltert wird. Der Traum vom Schriftsteller, dies Sehnen nach Gegenwelten, ist unbezwingbar und übersteht auch die Existenz einer Lehrerschaft in Zürich und einer Lektorenzeit in Japan. Später wird Muschg schreiben: »Jedes große Kunstwerk ist ein gebrochenes Schweigen, das seine Erinnerung bewahrt«. Gebrochen wird in der Kunst das Schweigen über die Last, dass der Mensch zumeist ein Wesen ist, über das andere mehr zu sagen haben, als man selber für zuträglich hält.
Seine gesellschaftliche Brauchbarkeit kann ein Schriftsteller nicht beabsichtigen, sie muss ihm als Möglichkeit zukommen, ein Defizit zu bewirtschaften. Und zwar staunend darüber, wie aus der Notwehr, einen Ausdruck für sich zu finden, ein liebenswürdiger Zweck wird. »In der Spinnstube, wenn irgendwo, müsste sich der Schriftsteller am rechten Ort fühlen.« Velázquez' Bild »Die Spinnerinnen« wird für Muschg zum Anlass für einen groß ausholenden Aufsatz über das Gewebe aus Sein und Schein, in das sich der Mensch naturgemäß verstrickt. Dies schöne wie schaurige Verheddern in den Kämpfen der Güte gegen die Grausamkeit, der Kraft gegen die Ohnmacht. Was treibt? Der Wunsch, dabei etwas Beständiges zu knüpfen, doch zerreißt irgendwann jedes Gewebe aus Anspruch und Ambition (privat und politisch und poetisch) - »in gewissem Sinn beginnt das Spiel der Kunst, wenn alles aufhört - auch der Gedanke an das Bleibende der eigenen Errungenschaft.«
Die Texte des vorliegenden Buches, Versuche und Reden 2002-2013, sind als eine Art Ariadnefaden zu verstehen, der durch die »labyrinthischen Verhältnisse« aller Zeiten und Ordnungen führt. Ob über Leitkultur oder das athenische Polis-Modell, Ob über Sinn und Schwund des akademischen Gedankens oder die Toleranz - einundzwanzig Essays umkreisen die Schwierigkeit des Zivilisatorischen, denn: »Menschen sind so konstruiert, dass von ihren wahren Empfindungen gleichzeitig das Gegenteil ebenso wahr ist«. Das ist so gut wie bitter, das lässt so sehr hoffen, wie es Furcht auslöst. »Dass der Mensch oft glaubt, nicht anders zu können, ist sein wahrer Skandal« - damit verweist Muschg auf jene Selbsttäuschungen, die der Feigheit, dem Einknicken und dem Ruch der Gefolgschaft das Ehrenkleid der treuen Pflichterfüllung umhängen wollen.
Der Autor zahlreicher Romane (»Im Sommer des Hasen«, »Albissers Grund«, »Der Rote Ritter«) zielt in seinem ästhetischen und geistigen Streben nicht auf programmatische Rundungen, er misstraut grundsätzlich den großen Entwürfen, »ein Ganzes zeigt sich nur in der Behandlung der Einzelheiten und in der Frage nach ihrem Zusammenhang mit jeder anderen Einzelheit.« Eine Kindheit an der sogenannten Goldküste der Schweiz, jenem Ufer des Zürich-Sees mit der stärksten Sonnenbestrahlung, dann eine langwierige Selbstfindung als Autor, die gegen Schreibblockaden ankommen muss und im Neinsagenkönnen wider allen Nonkonformismus ihr wahres Energiefeld findet - all dies erschuf einen Künstler und Intellektuellen, der die Suche nach Lebensantworten nie aufgab, der aber mehr und mehr akzeptierte, dass sie nur in ehrlichen, offenen Bekenntnissen zu Unschärfe und Mehrdeutigkeit zu finden sind. Was wahr ist im Leben, entzieht sich der Benutzbarkeit für Bauanleitungen. Kunst »tanzt auf genau der Stelle, wo uns nicht zu helfen ist«. Mit genau dieser Wahrheit hilft sie.
Adolf Muschg: Im Erlebensfall. Versuche und Reden 2002-2013. Verlag C.H.Beck, München. 310 S., geb., 22,95 €. Manfred Dierks: Adolf Muschg. Lebensrettende Phantasie. Ein biographisches Porträt. C.H. Beck Verlag München. 312 S., 18,99 €.
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