Von Wales bis zur Ukraine

Notizen von einer Konferenz der Rosa-Luxemburg-Stiftung zum Ersten Weltkrieg

Wir stehen in einem Krieg - um die Erinnerung«, kommentierte Stefan Bollinger am Mittwoch in Berlin die mediale Ausschlachtung des Ersten Weltkrieges. Über 150 neue Bücher sind zu dessen 100. Jahrestag bereits allein in Deutschland erschienen. Ernst Jüngers »Stahlgewitter« erlebte eine Neuauflage. TV-Sender wetteifern mit Doku-Sendungen um Quoten. Der Grundtenor: An der »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts« war eigentlich niemand so recht schuld, die Völker schlitterten in diesen Krieg hinein. Die medialen Darstellungen folgen allesamt dankbar der Botschaft des australischen Historikers Christopher Clark, der in seinem Buch »Die Schlafwandler« das Deutsche Reich als kriegstreibende Kraft entschuldet, entlastet.

Gewiss, so Bollinger auf der Konferenz, zu der »Helle Panke« und die Rosa-Luxemburg-Stiftung einluden, trug Deutschland nicht die Alleinschuld an der Entfesselung des »Großen Krieges«, wohl aber eine Hauptverantwortung. Das deutsche Kapital gierte nach den Erzgruben in Wales wie nach den Weizenfeldern in der Ukraine. Wirtschaftliche Interessen würden jedoch überhaupt nicht mehr thematisiert, beklagte der Berliner. Vergessen oder besser: vergessen gemacht ist das Buch von Fritz Fischer »Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/1918«, das 1961 in der Bundesrepublik erschien; von den Studien renommierter DDR-Historiker ganz zu schweigen. Bollinger betonte den imperialistischen Charakter des Krieges, der ein Krieg aller Großmächte um die Neuaufteilung der Welt war und nicht - wie auch oft zu hören und zu lesen - von nationalistischen Serben angezettelt wurde. Das Attentat in Sarajewo war ein zufälliger, willkommener Vorwand. Nun widmete sich auch die Konferenz der parteinahen Stiftung der LINKEN nicht explizit den wirtschaftlichen Ursachen des weltumspannenden Waffengangs vor 100 Jahren, sondern explizit und verdienstvollerweise dem gleichfalls vom zeitgeschichtlichen Mainstream ausgeblendeten, ignorierten oder gar verleugneten spontanen und organisierten Widerstand gegen Militarismus und Krieg.

Axel Weipert, Autor eines jüngst erschienenen, beachtlichen Buches über »Das Rote Berlin«, referierte über Antikriegsaktionen in der Reichshauptstadt und spannte den Bogen von Lebensmittelunruhen, »wilden« Streiks bis hin zu machtvollen Massendemonstrationen. Zu letzteren, die in mehreren europäischen Ländern in Revolutionen mündeten und Militär wie Politik zum Waffenstillstand zwangen, sprach sodann ausführlicher Ralf Hoffrogge, der vor sechs Jahren mit einer Biografie über »Richard Müller. Der Mann hinter der Novemberrevolution« seine ersten wissenschaftliche Meriten erwarb. Simon Loidl aus Wien erinnerte an den in Österreich heute tabuisierten Matrosenaufstand von Cattaro und verglich diverse literarische und dramatische Reflexionen der dreitägigen, blutig niedergeschlagenen Erhebung (von Bruno Frei über Friedrich Wolf bis Alfredo Bauer).

Diskutiert wurde als Lehre für heute das Versagen der Linken, der Parteien der II. Internationale in allen kriegführenden Staaten. Obgleich sie vor und noch 1914 zahlreiche Friedenskundgebungen und Konferenzen organisiert hatten (so 1907, 1910, 1912), schlossen sie, als es ernst wurde, »Burgfrieden« mit den Herrschenden im eigenen Land und wollten nicht zurückstehen als »Vaterlandsverteidigung«. Wohl auch, wie Weipert und Gisela Notz zu bedenken gaben, in der Hoffnung, dafür hernach belohnt zu werden: sei es mit politischen oder sozialen Reformen, Acht-Stunden-Tag oder Frauenwahlrecht. Selbst August Bebel, der Jahrzehnte im Reichstag flammende Reden gegen Kolonialkriege und steigenden Rüstungsetat hielt, wollte, wenn Russland angreifen würde, noch mal ein Gewehr schultern. Gisela Notz wusste ähnliches über Luise Zietz und Marie Juchacz. Namhafte Sozialistinnen beteiligten sich am Nationalen Frauendienst, der »Liebesgaben« (Päckchen mit Kuchen, Zigaretten, selbst gestrickten Strümpfen etc.) an die Männer im Felde schickte.

Konsequent und unbeirrt agitierten gegen den Krieg vor und während des Völkerschlachtens hingegen Rosa Luxemburg, Clara Zetkin, Käte Dunker und Martha Arendsee, die dann auch zur 1917 gegründeten, mit der »Burgfriedenspolitik« des SPD-Parteivorstandes brechenden Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands gehörten. Karl Liebknechts Losung »Der Hauptfeind steht im eigenen Land« fand zunehmend Anhänger und führte zum Schisma in der Arbeiterbewegung, das sich in der Frauenbewegung spiegelte, »wovon sie sich bis heute nicht erholt hat«, wie Gisela Notz urteilte. Bemerkenswert ob der Ausgrenzung kritischer Stimmen aus den Medien heute: Kriegsgegner sollten vom SPD-Vorstand durch die Auswechselung der Redaktionen des »Vorwärts« sowie der »Gleichheit. Zeitschrift für Arbeiterfrauen und Arbeiterinnen« mundtot gemacht werden, was nicht gelang.

Dankenswerterweise beleuchtete die Konferenz einen oft vergessener Kriegsschauplatz, der wieder unter Kriegen, Bürgerkriegen und ethnischen Säuberungen leidet. Michael Pesek informierte über Antikriegsaktionen in Afrika. Erfreulich war die Ankündigung, dass alle Referate demnächst in der Schriftenreihe der Hellen Panke editiert werden.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Mehr aus:
- Anzeige -
- Anzeige -