Soma im Ausnahmezustand
Um Proteste zu unterbinden, wird die Kohlestadt abgeriegelt / Premier Erdogan sitzt Krise aus
Es geht Schlag auf Schlag: Am Samstag verkündete der Energieminister Taner Yildiz das Ende des Brandes in der Kohlegrube von Soma und das Ende der Rettungsarbeiten. Am Sonntag wurden die Eingänge zur Grube zugemauert und die Annäherung an die Grube allen, inklusive Journalisten verboten.
Derweil herrscht in der Kleinstadt Soma der Ausnahmezustand. Aus Ankara, Istanbul, Izmir und dem benachbarten Denizli war Polizei und Gendarmerie in Soma zusammengezogen worden. Außerhalb der Stadt wurden Kontrollpunkte errichtet. Autos mit fremdem Kennzeichen wurden angehalten und die Reisenden nach dem Zweck ihrer Fahrt gefragt. Zum Teil wurden sie dann zurückgeschickt.
Der Gouverneur von Manisa hatte vorsorglich alle Demonstrationen und Kundgebungen in Soma verboten. Eine Gruppe von Anwälten und Gewerkschaftlern, insgesamt 36 Personen, die gekommen waren, um die Angehörigen der Opfer zu beraten, wurden ohne Begründung in ziemlich ruppiger Weise festgenommen. Nach Angaben des Anwaltes Selcuk Kozagacli, der auch dem Verein moderner Juristen in der Türkei vorsteht, wurden die Festgenommenen gefoltert. Ihm selbst wurde bei der Festnahme ein Arm gebrochen.
Erneut ging die Polizei auch in anderen Städten gegen Demonstranten vor. Wegen der Trauer sagte Staatspräsident Abdullah Gül alle Kundgebungen zum Tag der Jugend und des Sports, das ist einer von vier türkischen Nationalfeiertagen, der am 19. Mai begangen wird, ab. Nur offizielle Feiern dürfen stattfinden. Wer sich nicht im Rahmen der offiziellen Feiern bewegt, soll lieber trauern und zwar möglichst zuhause.
Indessen fiel auf, dass die Versuche, am Wochenende den Verboten zum Trotz dennoch zu demonstrieren, relativ wenig Zulauf hatten. Nur ein Jahr nach den Gezi-Protesten scheint sich Demonstrationsmüdigkeit breitgemacht zu haben. Schließlich hat es die Regierung Erdogan geschafft, selbst die größten Proteste einfach auszusitzen.
Es bleibt abzuwarten, wie sehr das totale Missmanagement der Krise Erdogan auch bei den 45 Prozent der Wähler geschadet hat, die seiner Partei und damit im Grunde vor allem ihm bei der Kommunalwahl Ende März noch die Stange gehalten haben. Erdogans Gewohnheit, im Falle von Schwierigkeiten nicht den kleinsten Fehler zuzugeben und stattdessen sofort in den Angriffsmodus zu schalten, hat diesmal kein gutes Bild geliefert. Erdogan erwies sich als unfähig, in seine Verteidigung auch nur einen Hauch von Anteilnahme zu integrieren. Stattdessen behauptete er, es könne gar keine Nachlässigkeiten gegeben haben, da erst vor kurzem eine Sicherheitsüberprüfung stattgefunden habe. Eine Behauptung, die ihm um die Ohren flog, als der Besitzer der Mine zugeben musste, dass es keinen Schutzraum gab. Dabei hatte die regierungstreue Zeitung »Star« bereits ein angebliches Foto davon veröffentlicht … Und dann war da noch Erdogans tretender Büroleiter, sein Sprecher, der behauptet, eben dieser Büroleiter sei krankgeschrieben, während selbiger offensichtlich weiter Dienst tut und schließlich die nicht ganz klaren Aufnahmen, auf denen Erdogan selbst schimpft und schlägt. Aber ob sich daran bei der Präsidentenwahl im August noch viele erinnern? Die gewaltige Übermacht der regierungsnahen Medien hat zwar Erdogans PR-Desaster nicht ganz verschleiern können, aber die Opposition konnte sich auch nicht profilieren. Ganz einfach, was sie sagte oder tat, wurde nicht gesendet und nicht gedruckt.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.