Ein dickes Knie für die Wettbewerbsfähigkeit

  • Roberto De Lapuente
  • Lesedauer: 4 Min.
Der Niedriglohnsektor ist nur die besonders dunkle Seite des deutschen »Arbeitsmarktwunders«. Es gibt auch Arbeitnehmer, die nicht unterhalb des Existenzminimums verdienen und trotzdem arm dran sind.

Unterhalb des Knies baut sich eine Art zweite Kniescheibe auf. Der Arzt sagte ihm, dass das Knochensubstanz sei, die sich dort absetze. Und er erklärte außerdem, dass man das operieren müsse. Aber mein Vetter sagte »Nein«, momentan gehe es nicht. Er arbeite nämlich seit mehr als einem Jahr über den Umweg eines Leiharbeitgebers in einem großen Automobilwerk und erhofft sich endlich eine Festanstellung. Bislang verlängerte man nur immer seinen Vertrag vierteljährlich. Und bei Krankheit, sagte er mir am Wochenende, geben Leihfirma und Entleiher ihren Arbeitern zwei Wochen. Dauert es länger, erfolgt die Kündigung. Ein Kollege von ihm hatte einen Bandscheibenvorfall und sollte operiert werden. Man hat ihm gleich gesagt, dann müsse er mit der Kündigung rechnen.

Dabei ist das nicht mal das klassische Niedriglohn-Modell, in dem schlechter Lohn mit fast vollständiger Schutzlosigkeit korreliert. Denn er verdient nicht mies. Der Entleiher stockt den spärlichen Lohn des eigentlichen Arbeitgebers ordentlich auf. So kommt dieser ledige Jungspund auf gute 1.900 bis 2.100 Euro netto im Monat. Je nach Schichtkonstellation und Überstunden. Von Niedriglohn kann man also gar nicht sprechen. Und doch ist der Preis hoch - und er und seine Kompagnons sind mit Geld in der Tasche arm dran.

Er mache sich so seine Gedanken, sagte er mir zudem. Wie geht es weiter? Was, wenn sie ihm den Vertrag mal nicht mehr verlängern? Er ist erst kürzlich in eine eigene Wohnung gezogen. Mit seinem derzeit guten Lohn kann er sich diesen Schritt leisten. Wenn sie ihn aber nicht weiter beschäftigen, werden die ersten eigenen vier Wände recht schnell problematisch. Ja, es wird ja schon schwierig, wenn sie ihn von heute auf morgen in einen anderen Entleihbetrieb stecken, denn dann fallen die Zulagen weg und er bekommt irgendwas zwischen 800 und 1.100 Euro auf die Hand.

So jung und schon so beladen von Existenzsorgen. Dieses »Arbeitsmarktwunder«, das die deutsche Regierung immer mal wieder in Feierlaune versetzt, ist eine schwere Bürde für junge Menschen. Klar, in Griechenland und Spanien sind die Jugendlichen arbeitslos und daher ohne Perspektiven. Und hier sind viele zwar »in Arbeit«, verdienen phasenweise nicht mal übel – aber wo sind ihre Perspektiven? Wo die Sicherheit, dass morgen nicht plötzlich das Einkommen halbiert und die noch frische Einrichtung ins eigene Leben nicht wieder rückgängig gemacht werden muss?

Da wird eine Klasse von Arbeitnehmern herangezogen, die von der Gewerkschaft erkämpfte Errungenschaften als Luxus empfinden muss. Für sie heißt es abwägen und rational durchdenken: Darf ich krank sein? Kann ich eine unbedingt angeratene Operation einfach auf unbestimmte Zeit verschieben? Bis ich es »mir leisten« kann? Die eigene gesundheitliche Schädigung ist programmiert – der volkswirtschaftliche Schaden einer solchen Praxis wird sich wohl nie beziffern lassen. Aber wer medizinische Behandlung verschiebt, der ist ja nicht plötzlich gesund. Er macht nur krank weiter. Die Rechnung kommt später.

Mein Vetter ist wütend auf seine Arbeitgeber. Er sagt das tatsächlich im Plural. Die Wut ist nachvollziehbar. Aber aus deren Sicht handeln sie rational. Denn dieses »Spiel mit der Flexibilität« ist ja politisch gewollt. Die letzten Regierungen fanden alle nichts dabei, die Möglichkeiten befristeter Arbeitsverträge zu liberalisieren oder Leiharbeiterrechte erst gar nicht einzuführen. Diese Klasse von Arbeitstieren, die zu funktionieren haben und bei Dysfunktion relativ schnell abgeschossen werden, die sind keine Kollateralschäden. Man will sie, denn sie sind der Motor des deutschen »Wirtschaftswunders«. Durch sie werden Risiken kalkulierbar. Lohnfortzahlungen? Das sind Romantizismen, die der internationale Wettbewerb nicht mehr zulässt. Wir kennen diese Sprüche ja.

Sein Knie bleibe jetzt zunächst mal dick, sagte er mir. »Damit Deutschland im Wettbewerb bestehen kann«, flüsterte ich. Er fragte nach, was ich da so leise gesagt hätte. Aber ich antwortete nur »Nichts, nichts« - er ist arm genug dran, ich will ihm nicht die letzte Hoffnung nehmen.

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