Querelen, die Lenin und Trotzki voraussahen

Im historischen Schnelldurchlauf: Wie aus der Paneuropa-Idee die Europäische Union erwuchs

Eines Tages werden, nach dem Muster der Vereinigten Staaten von Amerika, die Vereinigten Staaten von Europa gegründet werden«, soll Georg Washington gesagt haben. Heute in Washington Regierenden scheint es gar nicht so recht, was aus der Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelten Paneuropäischen Idee entstand, freilich erst nach dem Zweiten Weltkrieg und über ein halbes Säkulum begrenzt auf den Westen.

»Den Ersten Weltkrieg empfand ich als Bürgerkrieg zwischen Europäern: als Katastrophe erster Ordnung«, notierte der in Tokio als Diplomatensohn geborene, österreichische Publizist Richard Coudenhove-Kalergi. Um fürderhin solche Schlachten zu verhindern, gründete er 1924, gerade erst 30, die »Paneuropa-Union«. Seine Vereinigten Staaten von Europa sollten Freiheit, Frieden, Wohlstand und Kultur auf dem Kontinent garantieren. Einen engagierten Mitstreiter hatte er im Historiker Ludwig Quidde, langjähriger Vorsitzender der Deutschen Friedensgesellschaft und Friedensnobelpreisträger von 1927, der mit Paneuropa einen »organisierten europäischen Pazifismus« erhoffte; er gehörte zu jenen Intellektuellen, die 1914 keine Kriegseurophorie »übermannt« hatte.

Während diese beiden Männer gemeinhin im öffentlichen Bewusstsein nicht mehr präsent sind, gelten als »Väter Europas« vor allem der französische Außenminister Robert Schumann sowie sein Landsmann, der Unternehmer Jean Monnet. Ihnen ging es vornehmlich um Moneten. Sie initiierten 1952 die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, kurz: Montanunion, in die der vormalige Feind Deutschland einbezogen wurde. Der Zusammenschluss der westeuropäischen Schwerindustrie sollte dann irgendwann zu einer »allgemeinpolitischen Föderation« führen. Nach dem Etappenziel (West-)Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG, 1957) floss viel Wasser Rhein und Rhône hinunter, ehe mit dem Vertrag von Maastricht (1992) die Europäische Union aus der Taufe gehoben werden konnte. Zuvor musste erst die Berliner Mauer fallen. Ein Loch in den Eisernen Vorhang schnitt das »Paneuropäische Picknick« an der österreichisch-ungarischen Grenze bei Sopron am 19. August 1989 unter der Schirmherrschaft des CSU-Europaabgeordneten Otto von Habsburg, dessen (schwarze) Gesinnung nichts, aber auch gar nichts mit den Visionen von Coudenhove-Kalergi und Quidde gemeinsam hatte. Die symbolische Durchtrennung des Stacheldrahtes nutzten an jenem Tag Hunderte DDR-Bürger in Ungarn zur Flucht in den Westen - der erste Nagel im Sarg der DDR und des »Ostblocks«.

Die Querelen, die wir heute im »vereinten Europa« erleben, hat W.I. Lenin schon im Ersten Weltkrieg prophezeit, als auch er »Über die Losung der Vereinigten Staaten von Europa« sinnierte: »Unter dem Kapitalismus ist ein gleichmäßiges Wachstum in der ökonomischen Entwicklung einzelner Wirtschaften und einzelner Staaten unmöglich ... Die Ungleichmäßigkeit der ökonomischen und politischen Entwicklung ist ein unbedingtes Gesetz des Kapitalismus.« Weiter schrieb er im August 1915 im »Sozial-Demokrat«: »Natürlich sind zeitweilige Abkommen zwischen den Kapitalisten und zwischen den Mächten möglich. In diesem Sinne sind auch die Vereinigten Staaten von Europa möglich als Abkommen der europäischen Kapitalisten ... worüber? Lediglich darüber, wie man gemeinsam den Sozialismus in Europa unterdrücken, gemeinsam die geraubten Kolonien gegen Japan und Amerika verteidigen könnte« etc. Dem stellte der spätere Begründer des Sowjetstaates die Parole der »Vereinigten Staaten der Welt« gegenüber, »jene staatliche Form der Vereinigung und der Freiheit der Nationen, die wir mit dem Sozialismus verknüpfen«. Ähnlich fragte acht Jahre später, am 30. Juni 1923 in der »Prawda«, Leo Trotzki: »Man könnte die Frage aufwerfen: warum europäische und keine Weltföderation?« Wobei er sich diese von Arbeitern und Bauern regiert wünschte. Treffend seine Beobachtung, dass die USA aus dem Weltkrieg gestärkt hervorging und nun »in aller Ruhe« abwartet, »bis die Agonie der europäischen Wirtschaft einen Grad erreicht, bei dem Europa ... um billiges Geld aufgekauft werden kann.« Aktuell mutet auch sein Kommentar zu den ewigen Rivalen in Europa an: »Aber weder kann Frankreich sich von Deutschland zurückziehen, noch Deutschland Frankreich den Rücken kehren. Deutschland und Frankreich bilden zusammen den Grundkern Westeuropas. Hier steckt der Konflikt und die Lösung des europäischen Problems. Alles übrige ist nur Beiwerk.«

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