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»Birlikte« - nicht nur für ein Fest

Tausende erinnerten in Köln an ein Attentat von Nazi-Terroristen vor zehn Jahren

  • Anja Krüger und Pascal Beucker
  • Lesedauer: 7 Min.

Die Frontscheiben des Friseursalon Özcan in der Kölner Keupstraße sind mit riesigen Fotografien des zerstörten Ladens verhängt, davor steht ein Fahrrad aus Pappe, auf dem rot umrandete Kreise kleben, in denen »NSU« steht. Direkt davor steht ein Verkaufsstand, an dem Fan-Artikel in den deutschen Nationalfarben für Anhänger der Fußballauswahl angeboten werden.

An diesem Pfingstwochenende gedenken die Kölnerinnen und Kölner auf vielfältige Weise des Nagelbombenanschlags, der vor zehn Jahren die Keupstraße erschütterte. Zehntausende sind über Pfingsten in den rechtsrheinischen Kölner Stadtteil Mülheim gekommen, um an die Geschehnisse von damals zu erinnern.

Vor dem Friseurladen Özcan detonierte am 9. Juni 2004 die Bombe, die 22 Menschen verletzte, vier von ihnen schwer. Abdullah Özkan hatte sich gerade die Haare schneiden lassen, als es passierte. Der Elektriker stand an der Tür, da ging der Sprengsatz hoch. Die Wucht der Detonation schleuderte ihn durch das Geschäft. Die Nägel bohrten sich in seinen Hals, er hatte schwere Schulter- und Rückenverletzungen, er kam in die Klinik. Mit grimmiger Miene erzählt der bullige Mann, was danach geschah. »Dann hat man uns erst mal sechs, sieben Stunden verhört«, berichtet er. »Da wussten wir, dass wir nicht als Opfer, sondern als Täter angesehen werden.« Wer hinter der Bluttat steckte, blieb lange ungeklärt. Die Behörden ermittelten in »alle Richtungen«, nur nicht in die richtige. Inzwischen steht fest, dass das Attentat auf das Konto des rechtsterroristischen »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) geht.

Abdullah Özkan war von Anfang an überzeugt, dass nur Neonazis hinter der Tat stehen können. Das sagte er damals auch den Ermittlern. »Aber die haben mich nicht ernstgenommen«, sagt der 39-Jährige auf einer der zahlreichen Veranstaltungen am Sonntag in der Keupstraße. Die Jahre bis zur Selbstenttarnung des NSU Ende 2011 seien hart gewesen. »Wir sind alleine gelassen worden«, sagt Abdullah Özkan verbittert. Jetzt ist er einer der Nebenkläger im NSU-Prozess.

Bunt und fröhlich ist das Straßenfest an diesem Pfingstsonntag. Doch die schlimmen Jahre, die hinter Anwohnern und Geschäftsleuten liegen, sind unvergessen. Nach dem Anschlag nahmen die Fahnder die überwiegend türkeistämmigen Anwohner ins Visier. Sie überprüften per Rasterfahndung alle 25- bis 35-jährigen Männer im Viertel, hörten Telefone ab, platzierten verdeckte Ermittler und versuchten, die Bewohner der Straße gegeneinander auszuspielen. In den Medien wurde wild über vermeintlich mafiöse Zusammenhänge, einen Bandenkrieg, Auseinandersetzungen im Drogenmilieu, Schutzgelderpressung oder einem »Streit zwischen Türken und Kurden« als mögliche Tatmotive spekuliert. Kaum ein rassistisches Klischee blieb unbedient.

Die Folgen wirken bis heute nach. »Das Verhalten der Polizei hat in einem nicht zu unterschätzenden Maße das Trauma verstärkt, das die Opfer erlitten haben«, sagt Psychotherapeut Ali Kemal Gün, der die Opfer des Brandanschlag von Solingen behandelt hat und viele Anwohner der Keupstraße gut kennt. Gün ließ und lässt sich regelmäßig im Friseursalon Özcan die Haare schneiden. Er schätzt die Großveranstaltung zum Gedenken an den Anschlag sehr. Den Menschen in der Keupstraße ist großes Unrecht getan worden, sagt er. »Jetzt bekommen sie die Wertschätzung von der Mehrheitsgesellschaft, die sie brauchen.«

Viel Prominenz hat sich zu der Großkundgebung eingefunden, mit der das Kultur- und Kunstfest am Montagabend endet. Bundespräsident Joachim Gauck spricht. Udo Lindenberg, Peter Maffay und die Band BAP singen auf deutsch, der Musiker und Komponist Zülfü Livaneli auf türkisch.

Für die Geschäftsleute in der Keupstraße hatten der Anschlag und die jahrelangen Verdächtigungen verheerende Auswirkungen. »Die Kunden sind weggeblieben«, sagt Fatma Tunc, deren Familie seit mehr als 20 Jahren einen Juwelierladen in der Keupstraße betreibt. Die Türkeistämmigen kamen eines Tages wieder, aber die Deutschen nicht. Seit feststeht, dass der NSU für den Anschlag verantwortlich ist, haben etliche deutsche Politikern vor Ort ihre - all zu späte - Anteilnahme bekundet. Viel hält Fatma Tunc nicht davon. »Die Politiker reden viel und dann kommen sie nicht wieder«, sagt sie. Über Pfingsten hat ihr Geschäft wie die übrigen Läden in der Straße geöffnet. Die Händler hoffen, dass durch die Veranstaltung nicht nur an diesem Wochenende, sondern generell mehr Kunden kommen. Sie haben viele Läden in den vergangenen Jahren schließen sehen. Etliche Geschäftsleute konnte die Umsatzeinbrüche kaum oder nicht verkraften, mussten Mitarbeiter entlassen oder ganz schließen.

Auch Anetta Kahane findet, dass die Leidtragenden der rechtsextremistischen Anschläge schlecht behandelt werden. »Es gibt zu wenig Empathie mit den Opfern«, sagt sie. »Die Opfer stehen nicht im Mittelpunkt, auch hier in Köln nicht.«

Eröffnet wurde das Straßenfest am Pfingstsonntag vom Kölner Oberbürgermeister Jürgen Roters und dem türkischen Botschafter Hüseyin Avni Karslıoğlu. Gemeinsam lassen sie weiße Tauben als Zeichen des Friedens aus einem Weidenkorb aufsteigen. »Zusammenstehen ist nicht nur eine Botschaft, sondern auch eine Aufgabe«, sagt Roters. Neben ihm steht Meral Sahin von der Interessengemeinschaft Keupstraße. »Dieses Fest bedeutet uns und dieser Straße wahnsinnig viel«, sagt sie. Ihre Bitte: »Bleibt und kommt uns auch nach dem großen Fest besuchen.« Nach der Eröffnung spielen das türkische Nationalorchester und das Polizeiorchester NRW gemeinsam.

Zehntausende sind gekommen, um ihre Solidarität auszudrücken. Parallel zu dem Programm auf zwei großen Bühnen finden am Wochenende an 30 verschiedenen Auftrittsorten in der Keupstraße und der Nachbarschaft mehr als 200 Veranstaltungen statt. An einem Ende der Straße tanzt ein Kölner Karnevalstruppe, am anderen Ende eine traditionelle türkische Gruppe. Torwartlegende Toni Schumacher hält eine Autogrammstunde ab. Im Hinterhof des Friseursalon Özcan liest Günter Wallraff. Im Hofeingang der Keupstraße 54 rezitieren Mitglieder des Ensembles des Kölner Schauspielhauses und Kölner Bürger die Protokolle des NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestages. SPD-Chef und Vizekanzler Sigmar Gabriel warnt bei einer Veranstaltung: »Der Rechtsextremismus und der Rechtsterrorismus ist nicht vorbei.« Sie seien »leider auch ein Teil der Gegenwart«. Mit ihm und dem CDU-Landesvorsitzenden Armin Laschet steht Mevlüde Genç auf der Bühne der Depandance des Schauspielhauses in der Nähe der Keupstraße. »Für mich ist das die beeindruckendste Frau, die ich kenne«, sagt Laschet. Zwei Töchter, zwei Enkelinnen und eine Nichte verlor sie bei dem neonazistischen Brandanschlag auf ihr Haus in Solingen 1993. »Wir können nur etwas erreichen, wenn wir aufeinander zugehen«, sagt die heute 60-Jährige.

Die Aufklärung über die Hintergründe der NSU-Mordserie, der zehn Menschen zum Opfer fielen, ist Thema viele Veranstaltungen an diesem Pfingsten. Sie wird demnächst auch den nordrhein-westfälischen Landtag beschäftigen. Auf Initiative der Piratenpartei soll nach der Sommerpause ein eigener Untersuchungsausschuss die Arbeit aufnehmen, der die noch offenen Fragen unter anderem zum Anschlag in der Keupstraße aufklären soll. Die Initiative »Keupstraße ist überall« begrüßt die Einrichtung. Die Initiative ist im November 2013 in Blick auf den Prozess gegen Beate Zschäpe in München entstanden. »Entscheidend wird es sein, dass auch die Rolle der Polizei und des deutschen Inlandsgeheimdienstes Verfassungsschutz unter die Lupe genommen wird«, heißt es in einer Erklärung. Die Initiatoren wollen gemeinsam mit den Nebenklägern zum Prozess nach München fahren, wenn dort der Keupstraßen-Komplex behandelt wird. Von den 80 Nebenklägern kommen mehr als 20 aus der Keupstraße.

Dutzende von Initiativen, Organisationen und Unternehmen unterstützen die Veranstaltungen, auch Gewerkschaften sind darunter. »Hier machen Leute etwas zusammen, die sonst nie etwas gemeinsam machen«, sagt Organisator Manfred Temme. Es soll ein Anfang sein, kein Schlusspunkt. »Das waren drei wichtige Tage für Köln, um etwas in Bewegung zu setzen«, resümiert der Kölner DGB-Vorsitzende und SPD-Landtagsabgeordnete Andreas Kossiski. »Mit dem Schlussakkord von heute Abend ist das Thema nicht vom Tisch.«

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