Alles andere als ein Sieger
Der Gewerkschafter Jürgen Weißbach ging 1989 von Niedersachsen nach Magdeburg. Nach 25 Jahren sieht er sich weiter als »Wessi« - und ist zugleich das Paradebeispiel eines Ossi-Verstehers
Wie kommt ein Zugezogener in einer neuen Heimat wirklich an? Wie schafft er es, nicht nur eine Wohnung, eine Arbeit und ein Stammlokal zu haben, sondern auch einen Stein im Brett bei denen, die sich als Einheimische fühlen? Manchmal hilft eine Rede. Eine, wie sie Jürgen Weißbach im Mai 2001 auf dem Gertraudenfriedhof in Halle hielt. Der damals 63-jährige Weißbach war Landeschef des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) in Sachsen-Anhalt und als solcher gebeten worden, zur alljährlichen Ehrung der Opfer von Faschismus und Krieg zu sprechen. Er habe sich »sehr gründlich vorbereitet«, sagt der promovierte Theologe, und er traf damit offenbar den Nerv seiner Zuhörer. Einer von ihnen, der Maler Willi Sitte, fragte anschließend einen Begleiter, um wen es sich bei dem Redner gehandelt habe. Die Antwort ließ den langjährigen DDR-Kulturfunktionär und ehemaligen Partisanen Sitte staunen: So eine gute Rede - von einem Gewerkschafter und Sozialdemokraten! Was der Maler mit den bitteren Erfahrungen in den Nachwendejahren nicht sagte, aber vermutlich in Gedanken hinzufügte: So eine Rede - von einem Westdeutschen!
Ja, Weißbach ist Westdeutscher. Einer von denen, die nach dem Fall der Mauer im November 1989 einen guten Posten in der alten Bundesrepublik gegen einen besseren Posten in dem Landstrich eintauschte, der zu den »neuen Ländern« geworden war. Weißbach, dessen berufliche Laufbahn ihn nach der Promotion 1970 zunächst an die Uni Göttingen und dann für zwölf Jahre an das Zentrum für wissenschaftliche Weiterbildung der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg geführt hatte, war seit 1986 der zweite Mann beim DGB in Niedersachsen gewesen. In Sachsen-Anhalt rückte er sechs Jahre später zum Ersten auf: als Landesvorsitzender. Man könnte ihn also für einen jener Wendegewinner halten, denen der Umbruch in der DDR die Chance zum Karrieresprung eröffnete; einen derjenigen, die an hoch qualifizierten Ostdeutschen vorbeizogen und diese verdrängten, weil sie über die richtige Herkunft verfügten. Manche, erinnert sich Weißbach, hätten ihm das ins Gesicht gesagt: Er sei, musste er sich anhören, »ein Sieger«.
Eine Funktion zum Renommieren war der Chefposten bei den Gewerkschaften in jenen Jahren im Osten nicht. Die Abwicklung der DDR-Kombinate und deren von der Treuhand voran- getriebene Privatisierung kostete Zehntausende Arbeitsplätze; die Regionen um Magdeburg und Halle, die von Schwermaschinenbau, Chemie und Bergbau geprägt waren, litten besonders stark.
Nichts falscher als das. Weißbach wollte nicht Erster werden. »Ich wollte nicht einmal hier bleiben«, sagt er. In den Osten gekommen war er, weil Gewerkschafter in Magdeburg darum gebeten hatten. Sie kannten Weißbach und einige seiner Kollegen von einer »Schnupperpartnerschaft«, die der DGB und der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB) kurz vor dem Ende der DDR abgeschlossen hatten. 1988 reisten fünf Ost-Gewerkschafter in den Westen und staunten über hoch automatisierte Hütten- und Automobilwerke; im Mai 1989 kamen fünf Westdeutsche in den Bezirk Magdeburg. Sie erlebten das Kaliwerk Zielitz, das Magdeburger Schwermaschinenkombinat Ernst Thälmann (SKET) - und FDGB-Funktionäre wie Ernst Schladitz, die ihre Kollegen offen auf Veränderungen in der DDR vorbereiteten. »Diese Kollegen hatten begriffen: Es wird kein Überholen geben«, sagt Weißbach in Anspielung auf die DDR-Parole vom »Überholen ohne einzuholen«. Sie sollten Recht behalten. Die Delegation aus dem Westen hatte ihre Reise noch nicht einmal förmlich ausgewertet, da war die Grenze offen, und Weißbach kehrte nach Magdeburg zurück - nicht als Bildungstourist, sondern als »gewünschter Berater«.
Das Etikett »Berater« hefteten sich in jenen Monaten viele an, die tatsächlich allerdings das Ruder fest in die Hand nahmen und die Ellenbogen ausfuhren. Weißbach hatte ein anderes Verständnis: Er habe sich als »Besatzungsoffizier britischen Typs« gesehen, sagt er. Dabei ging es ihm nicht um das englisch wirkende Erscheinungsbild: die dicken Stumpen, die er raucht, und die Mütze der Marke »Elbsegler«, ohne die er praktisch nie aus dem Haus geht. Als »britisch« verstand er vielmehr seinen Stil: die neuen Regularien und Maßgaben zu kennen und durchzusetzen, aber nicht über die Köpfe der Menschen im »Besatzungsgebiet« hinweg. Dazu habe er sie binnen Kurzem zu sehr schätzen gelernt - die zum Teil einfachen Leute, die mit Goethe nicht nur etwas anfangen, sondern ihn sogar zitieren konnten. Die Vielen, die für ihn schon Jahre eine Art Doppelleben geführt haben, weil sie die Wahrheit um die wirtschaftliche Situation der DDR zwar gekannt, aber selten oder gar nicht ausgesprochen haben. Die großen Hoffnungen auf eine Freiheit, von der Weißbach aus Erfahrung wusste, dass sie so auf keinen Fall eingelöst werden würde. Aber irgendwie müssen die Menschen in seiner Umgebung gespürt haben, dass er es ehrlich meint. Am Ende seines DGB-Funktionärsdaseins in Magdeburg wurde ihm jedenfalls bescheinigt, er habe immer die Wahrheit gesagt. »Das höchste Lob«, sei das für ihn gewesen, bekennt Weißbach.
Das Lob verdankt sich womöglich auch der Tatsache, dass er der einzige DGB-Regionalchef im Osten gewesen ist, der »zu 80 Prozent Ostdeutsche eingestellt hat«. Auf einige Personalien ist er noch heute stolz. Auf Petra Bratzke beispielsweise, eine Ökonomin von der Uni Halle, die zu einer beim DGB geschätzten und bei der Treuhand respektierten Expertin für Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik wurde und heute die Agentur für Arbeit in Halle leitet. Überhaupt die Frauen aus der DDR - die haben Weißbach imponiert. »Patent« und selbstbewusst seien die, sagt er, emanzipiert eben - aber nicht so verbissen, wie die Feministinnen, die er aus dem Westen kannte.
Auch für den Chefposten hatte Weißbach auf einen Hallenser gesetzt, einen 40-jährigen Chemiegewerkschafter - der aber andere Karrierepläne entwickelte. Es wäre freilich auch der einzige Ostdeutsche auf solchem Posten gewesen. Ob er im Jahr 1992 tatsächlich gewählt worden wäre, sei deshalb offen, räumt Weißbach ein, der sich deshalb dann doch zum Bleiben entschloss: »Als ich sah, wer alles auf den Job scharf war, dachte ich: Dann mache ich es lieber selbst.« Und eine seiner ersten Amtshandlungen war, die ostdeutschen Mitarbeiter für vier Wochen in den Westen zu schicken: »Sie sollten sehen, dass dort auch nur mit Wasser gekocht wird.« Dass sie zudem offenbar bei dem Schnellkurs auch mitbekamen, dass nicht alle in den »alten Ländern« böse Wessis sind, hatte er wohl ganz nebenbei eingeplant.
Eine Funktion zum Renommieren war der Chefposten bei den Gewerkschaften in jenen Jahren im Osten nicht. Die Abwicklung der DDR-Kombinate und deren von der Treuhand vorangetriebene Privatisierung kostete Zehntausende Arbeitsplätze; die Regionen um Magdeburg und Halle, die von Schwermaschinenbau, Chemie und Bergbau geprägt waren, litten besonders stark. Er selbst habe »einen einzigen Betrieb retten können«, sagt Weißbach; ein Pharmaunternehmen aus der Region Dessau. Ansonsten aber konnten DGB und Einzelgewerkschaften höchstens versuchen, den Fall der zu Tausenden entlassenen Beschäftigten von Betrieben wie SKET, Traktorenwerk Schönebeck oder Waggonbau Ammendorf mittels Sozialplänen und Transfergesellschaften zu mildern. Zu verhindern waren die Schließungen nur selten. Weißbach ist überzeugt, dass die Wirtschaft in der Region eine andere Entwicklung hätte nehmen können, wenn man sie nicht der Treuhand, sondern »Leuten aus der DDR überlassen hätte«: Ingenieuren und Technikern, die Leitungserfahrung hatten und Teile der einst volkseigenen Betriebe auch in die Marktwirtschaft hätten retten können. Derlei »Management Buy-outs« aber waren erst ab 1994 möglich, als vielerorts schon nichts mehr zu retten war.
Waren Gewerkschafter also auf die Rolle als Grabredner und Sozialarbeiter beschränkt? War jeder Widerstand zwecklos? Weißbach zuckt die Schultern. »Die Leute setzen sich für Kinder, Kultur und Kleinzoos ein«, sagt er, »die Schließung von Betrieben nehmen sie oft als Schicksal hin.« Wenn Belegschaften doch auf die Straße gegangen seien oder Mahnwachen abgehalten hätten, dann oft erst, »wenn die Chefs mitgemacht haben«. Ist der Ostdeutsche also ängstlich oder auf Autoritäten fixiert? Weißbach mildert die Kritik sofort: »Im Westen gibt es auch nicht mehr Mutige, nur fünf Prozent der Menschen kämpfen um ihre Rechte«, sagt er, »die Leute wachsen nur in einer anderen Umgebung auf.«
Ein Satz, der typisch ist für Weißbach. Für einen Mann, der sich mit harschen Urteilen über den Osten, die DDR und ihre Menschen auffällig zurückhält. Der Sätze sagt wie: »Ich habe die DDR immer ernst genommen«. Der auf Fragen nach der wirtschaftlichen Malaise im untergegangenen deutschen Staat antwortet: »Wir haben doch im Westen auch keine Alternativökonomie«, und der statt eines Verdikts über die Stasi lieber eine Anekdote darüber zum Besten gibt, wie ihm bei der Organisation von Studentenprotesten in Oldenburg der Verfassungsschutz ins Handwerk zu pfuschen suchte. »Man muss sich«, sagt Weißbach, »in Gesellschaften hineindenken, bevor man Urteile fällt.« Er würde deshalb, fügt er an, heute wohl als »Putin-Versteher« gelten. Eines ist er auf jeden Fall: das Paradebeispiel eines Ossi-Verstehers.
Vielleicht liegt es daran, dass er selbst als solcher durchgehen könnte. Geboren ist Weißbach in Dittersdorf bei Chemnitz; das erste Jahr der DDR erlebte er wenige Kilometer entfernt im Schatten des kursächsischen Jagdschlosses Augustusburg. 1950 siedelte die Familie in den Westen über. Weißbach besuchte freilich weiter regelmäßig die im Osten zurückgebliebene Verwandtschaft - und agitierte diese, weil sie Vorzüge des Sozialismus wie das regelmäßige Mittagessen für die Schulkinder nicht schätzte. »Wir hatten in Frankfurt am Main damit zu kämpfen, dass 15 Prozent der Schüler als Schlüsselkinder galten, die jeden Tag ohne warmes Mittagessen über die Runden kommen mussten«, versucht er zu erklären, warum ihn diese »DDR-Errungenschaft« beeindruckt hat. Das geistig »Einengende« des Lebens in der DDR nahm er damals nicht wahr. Heute, sagt er, sei er »froh, dass ich eine Entwicklung nehmen konnte, wie ich sie in der DDR vermutlich nicht genommen hätte«. Und weil es vor allem die vier Jahrzehnte im Westen gewesen sind, die ihn geprägt haben, sagt er heute auch auf entsprechende Nachfrage wie aus der Pistole geschossen: »Ich bin Wessi.« Trotz eines Vierteljahrhunderts Leben im Osten hält Weißbach an der Herkunftsbezeichnung fest, »aus Prinzip, so, wie ich auch aus Prinzip weiter rauche«.
Vielleicht waren es solche Eigenschaften, die auch Willi Sitte an Weißbach schätzte: eine Mischung aus Offenheit und Prinzipienfestigkeit; Bemühen um Verständnis, ohne sich anzubiedern. Dazu kam die von beiden geteilte Liebe zum Tabak - und zu Haus Sonneck. Das bei Naumburg gelegene einstige Künstlerhaus des von Sitte geleiteten Verbands Bildender Künstler ist heute eine Bildungseinrichtung der Gewerkschaften. Weißbach hat daran sein Herzblut gehängt - und ist, wie er einräumt, vor allem wegen Sonneck auch als Pensionär im Osten geblieben. Eine große Aktie hat er zudem an der Willi-Sitte-Stiftung, die das Werk des Malers bewahrt und in Merseburg eine Galerie betreibt. Weißbach steuerte einen Teil des Gründungskapitals bei, nachdem er bei seinem Ausstand als DGB-Chef 2003 unter Gewerkschaftskollegen gesammelt hatte. Mit Sitte war er bis zu dessen Tod im Juni 2013 in enger Freundschaft verbunden. Als der Maler beigesetzt wurde, hielt Weißbach erneut eine Rede auf dem Gertraudenfriedhof. Und das, obwohl er nicht nur Gewerkschafter und Sozialdemokrat, sondern sogar bekennender Wessi ist.
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