Endlich waren wir groß
Wendeherbst in der Russisch-Schule
So fühlt sich also das Erwachsenwerden an: FDJ-Aufnahme, Jugendweihestunden, erster Personalausweis. Seit dem 1. September 1989, Weltfriedenstag und Ferienende, waren wir Achtklässler und gehörten zu den Großen. Stimmbruch, Körperhaar, Zigarettenstummel. So also sieht das Ende der Kindheit aus: West-Nicki, Stone Washed Jeans, Aktenkoffer. So also sagt man sich los von den Autoritäten: Ausreisewelle, Honecker-Rücktritt, Wir sind das Volk!
In jenem Herbst wähnten wir dreizehn-, vierzehnjährigen Russisch-Schüler in Berlin-Biesdorf uns befreit von allem Druck. Noch im September schrieb meine Staatsbürgerkundelehrerin mir eine Verwarnung ins Hausaufgabenheft: Ich hatte ihren Unterricht mit »provokativen Fragen« gestört. Zwei Monate später hielt ich ihr den Eintrag - provokativ, aber ja - unter die Nase. Kleinlaut übte sie sich darin, Erstaunen zu spielen. So schnell ändern sich die Zeiten: Es gab die verbotenen Fragen nicht mehr. Aber Antworten auch nicht.
Am 4. November, einem Sonnabend, hatten wir in der dritten und vierten Stunde Musik. Wir paukten nicht Bach, und wir hörten nicht Busch. Unser Lehrer, ein freundlicher Mann mit Vollbart, öffnete den Schrank, in dem die Röhre stand. Das DDR-Fernsehen übertrug live vom Alexanderplatz die Großdemonstration. Lange hielt es den Bärtigen nicht, er wollte da hin. Vorgezogener Schulschluss, auch wir fuhren zum Alex.
Als sechs Tage später die Mauer gefallen war, kam unsere Klassenlehrerin erst mittags zur Schule - sektüberströmt. Sie, keine zehn Jahre älter, war uns nahe. Als ich einmal ins Direktorat beordert worden war, weil ich ein kritisches Gedicht an die Wandzeitung gepinnt hatte, gab sie mir für die holprigen Verse demonstrativ eine Eins in Deutsch. Die Direktorin war baff - und schwieg.
Noch eben gegängelt, wurden bald wir zu Tyrannen: Der ungeliebten Stabü-Lehrerin, die in der DDR einen VW Golf fuhr und teure Pelze trug, brachten wir von einem unserer ersten Ausflüge nach Westberlin ein Flugblatt mit, das Tierschützer vor der »Pelz Lösche«-Filiale am Kudamm verteilt hatten: Mit den grausamsten Arten, Pelztiere zu töten, suchten wir sie zu schocken. Schale Genugtuung.
Es waren prägende Monate, in denen Pubertät und Politik wie Lava zusammenflossen. Kalt ist jener Stein geworden. Kalt und brüchig.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.