Herbst 89: Aus Briefen ans ND

  • Lesedauer: 4 Min.
Ich freue mich über das neue Gesicht unseres ND, endlich haben wir ein Zentralorgan für die gesamte Partei und nicht nur für ein Zentralkomitee. Aber bei der Berichterstattung zum Sonderparteitag verfallt ihr wieder in den alten Trott. Warum wird wie früher in den Berichten der «Beifall» einge-flochten?

Ich habe meinen Brief an die Tageszeitungen «Neues Deutschland», «Neuer Tag», Junge Welt« und »Tribüne« übersandt und würde mich freuen, wenn alle Zeitungen sich über einen Termin der Veröffentlichung einigen könnten und dieser Beitrag in allen vier Zeitungen an einem Tag erscheint.

das niveau des zentralorgans der sed ist ein skandal so kann und darf die parteidiskussion keine stunde weitergeführt werden (Telegramm)

Es ist auffällig, dass Anders-denkende in Ihrer Zeitung nicht zu Wort kommen. Darum bitte ich, diesen Brief vollständig zu veröffentlichen, damit Ihre Zeitung ein demokratisches Gesicht bekommt.

Ich nenne meinen Namen nicht, nicht aus Angst vor der Staats-sicherheit, sondern aus Angst um meine Familie vor den immer lauter schreienden radikalen Gruppen in unserem Land.

Eine besorgte Mutter und ihr Arbeitskollektiv

Ihr solltet mal Eure Zeitung mit den Augen eines Verratenen lesen!

Mein Vorschlag: Das ND befasst sich auf einer dringend not-wendigen Umweltseite (z.B. in der Wochenendausgabe) vor-rangig mit der Kernenergie, berichtet objektiv und umfas-send, veröffentlicht Berichte, Dokumentationen, Analysen und Studien von Atomkraft-gegner, die bis jetzt nur im innerkirchlichen Blätterwald erschienen sind.

Wer auf einen Posten aus war, als er sich für die Partei entschied, der verlasse uns, denn so oder so: Die neue oder erneuerte Partei befördert keine Postenjäger. Und wer nun Nachteile fürchtet oder Schlimmeres, vielleicht nicht einmal zu Unrecht, der ziehe sich jetzt zurück, und wir wollen uns ohne Groll voneinander trennen.

Auch auf die Gefahr hin, dass Sie mich ein weiteres Mal der Unhöflichkeit zeihen, bin ich der Meinung - und das ist das Neue in unserer Zeit, Herr Chef-redakteur, dass man das der SED und ihrem Zentralorgan sagen kann -, Sie sollten sich mehr nach vorn, weniger nach oben orientieren.

Ich halte den Sozialismus für machbar, obwohl es zur Zeit kein intaktes Beispiel in der Welt gibt!

Der alte Zustand ist noch nicht überwunden. Ich bitte um Auswertung und Antwort.

Auf alle Fälle erwarten wir, dass unsere Zeitungen in der nächsten Zeit die Interessen der Arbeiter und der Arbeiterklasse mehr vertreten als die hass-erfüllten Demonstranten in unserer Presse zu Wort kommen zu lassen.

Wäre es für das Neue Deutsch-land nicht wenigstens jetzt zeitgemäß, sich der aktuellen politischen Karikatur zu erinnern und sie einzusetzen? Ich denke dabei vor allem an die Karikatur, die ehemalige und gegenwärtige Politiker (natür-lich auch unserer Partei!) und andere Persönlichkeiten des Landes endlich nicht mehr »respektvoll« auslässt, sie auch nicht nur - kultisch gar - rühmt, sondern mit spitzen Stift »auf-spießt«.

Die Bereitstellung von Tages-zeitungen ist insgesamt unzu-reichend. Der Verweis auf fehlendes Papier und Valuten greift nicht. Ein Land, das Olympiamedaillen um jeden Preis erringen kann, ist auch kurzfristig in der Lage, dieses Problem zu meistern.

Also bemüht euch um neues Denken, um Offenheit und um Eigenständigkeit, denn wie die Ereignisse zeigen, ist es gefähr-lich, nur vertrauensvoll der Par-teiführung hinterher zu laufen.

Eure Zeitung ist nicht mehr die »Größte«! Passt doch bitte das Format auch dieser veränderten Sachlage an. Das würde auch die Lesbarkeit erleichtern, Papier sparen und vor allem ein Zeichen setzen.

Die ökonomischen und beson-ders politischen Hintergründe der kapitalistischen Anzeigen-werbung, die auch Lenin anprangerte (Werke Bd. 20, S. 155 ff), sind doch bekannt.

Wir sind ein geteiltes Land. Die Bewältigung der Probleme in der DDR sind nur mit Hilfe der BRD zu schaffen. Das spürt jeder vernunftbegabte Mit-bürger.

Hut ab vor Ihrer Hoffnung! - ich habe für Sie keine. Graben Sie sich ein!

Was bedeutet es heute noch, »Mit sozialistischem Gruß« zu unterschreiben? Ich weiß es nicht. Deshalb ohne Gruß.

Die Zeit ist sehr aufregend, unruhig, doch das Schlimmste ist wohl von uns überstanden. Einige Ereignisse werden aber wohl noch kommen.

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