»Wir verteidigen die Gezi-Park-Bewegung«
Prozess gegen Anführer der Proteste begann
Es war 9 Uhr morgens, als Mücella Yapıcı, eine ältere Dame in blauem Kleid und weißer Bluse, am Mittwoch vor dem gigantischen Gerichtsgebäude in Istanbul auftauchte. Umstehende schüttelten ihr die Hand, klopften ihr auf die Schulter. Sie nickte, lächelte und verschwand im Gebäude.
Mücella Yapıcı ist Vorsitzende der Istanbuler Architektenkammer und eine der fünf Hauptangeklagten im Prozess gegen die Mitglieder der Taksim-Solidarität. Der Dachverband von über 100 Bürgerinitiativen gehörte zu den Hauptakteuren bei den Protesten rund um den Istanbuler Gezi-Park im vergangenen Jahr. Die Staatsanwaltschaft wirft den Angeklagten die Bildung einer »kriminellen Vereinigung« vor. Im Falle einer Verurteilung drohen einigen der insgesamt 26 Angeklagten bis zu 13 Jahre Haft. Im Sommer 2013 hatten sie gegen die Zerstörung des Parks zugunsten der Errichtung eines Einkaufszentrums demonstriert.
Als der Protest von der Polizei brutal niedergeschlagen wurde, gingen tausende Menschen auf die Straße, um gegen Polizeigewalt und den autoritären Führungsstil von Premierminister Recep Tayyıp Erdoğan zu protestieren. Wieder reagierte die Polizei mit übermäßiger Gewalt und dem Einsatz von Wasserwerfern und Tränengas. Landesweit kamen mindestens acht Menschen ums Leben, rund 8000 wurden verletzt.
Der Gerichtssaal war am Mittwoch voll. Dabei war die Zuschauermenge überschaubar. Mehr als 150 Unterstützer der Angeklagten waren nicht gekommen. Es war Mittwoch, ein Werktag. Und das war Absicht, wie viele der Beobachter glaubten. Dass trotzdem nicht genug Platz war, lag an der Größe des Saals. Den halben Raum brauchten die Angeklagten und ihre Anwälte, es gab nicht mehr als 100 Zuschauerplätze. Und das, obwohl der »Palast der Gerechtigkeit« das größte Gerichtsgebäude Europas ist. Das ist jedoch mehr Schein als Sein: Einen Großteil des Gebäudes nimmt die enorme Eingangshalle ein.
Mücella Yapıcı trug mit lauter Stimme ihre Verteidigungsrede vor. »Man kann keine kriminelle Vereinigung gründen, indem man sagt: ›Wir wollen kein Einkaufszentrum‹. Das ist lächerlich.« Ausführlich berichtete sie vom Beginn der Proteste, von brutalen Polizeieinsätzen und davon, wie die Regierung die Mitglieder der Plattform, die sie jetzt als kriminell bezeichnet, damals noch zu Gesprächen einlud.
Yapıcı soll die Arbeit der Polizei behindert haben. Ein Vorwurf, der sie schmunzeln ließ. »Ich bin zu alt«, sagte die 63-Jährige. »Wenn die Polizei wirklich glaubt, dass ich dazu fähig bin, ist das zu schmeichelhaft.« Gleich aber wurde sie wieder ernst: »Statt uns sollten Sie lieber die Verantwortlichen für die Polizeigewalt anklagen.« Im Saal brach Applaus aus.
»Wir verteidigen nicht nur uns selbst, sondern die ganze Gezi-Park-Bewegung«, sagte Ali Cerkesoğlu von der Istanbuler Ärztekammer. Auch er ist ein Hauptangeklagter, ebenso wie Haluk Ağabeyoğlu. Dass ihnen hohe Haftstrafen drohen, spielt für Ağabeyoğlu keine Rolle. »Wir leben in einer Gesellschaft«, erklärte er, »um die geht es, nicht um uns.«
Für Ağabeyoğlu ist der Prozess ohne Zweifel ein politischer. Dass das Verfahren überhaupt eröffnet wurde, zeige die Angst des Staates vor zivilem Widerstand. Auch Amnesty International verurteilt den Prozess als politisch motiviert und fordert seine Einstellung.
Bis zu einem Urteilsspruch können Wochen vergehen, der Ausgang ist völlig ungewiss. »Das Recht wird heute vom Ministerpräsidenten gesteuert«, sagte Haluk Ağabeyoğlu. »Und der verhält sich inzwischen wie ein Diktator.«
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