Über die Wende hinaus am Zug
Wie die Fernschacholympiade 1987 die politischen Umwälzungen 1989 außer Kraft setzte
»Die DDR hat es nie gegeben« stand 2008 an der Rathausbrücke mit weißer Farbe an eine Mauer gemalt. Von der Brücke ging der Blick nach Westen über den Schriftzug hinweg in das damals klaffende Loch in der Berliner Mitte, wo die letzten Reste des Palastes der Republik abgerissen waren und später das neue, auf alt getrimmte Stadtschloss entstehen sollte. Ein Kommentar auf die Versessenheit, mit der die Erinnerung an den 1990 aus der Geschichte verschwundenen deutschen Staat zwischen Elbe und Oder aus dem Stadtbild getilgt wurde und wird. Natürlich hat es die DDR gegeben, auch wenn sie medial ein Vierteljahrhundert nach der Wiedervereinigung wahlweise als »Unrechtsstaat« oder als »lustiger historischer Anachronismus« gezeichnet wird. Und ein kleines Stück DDR hat sogar weit über die eigene Auflösung hinaus real existiert.
Im November 1987 beginnt die zehnte Fernschacholympiade. Fernschach ist der langsamste Sport, den man sich vorstellen kann: Während die Spieler bei Partien am Brett vielleicht drei Minuten Zeit für einen Zug haben, beim Blitzschach sogar nur fünf Minuten für eine ganze Partie, spielt die Stoppuhr beim Fernschach überhaupt keine Rolle: Ganze drei Tage haben die Spieler Zeit, um über einen einzigen Zug nachzudenken. Und dann beginnt das Warten erst so richtig. Im Prä-Internet-Zeitalter werden die Züge per Brief oder per Postkarte an den Gegner übermittelt und das kann schon einmal mehrere Wochen in Anspruch nehmen. Zwischen den 1987 startenden Mannschaften aus der BRD, Italien, Norwegen und den Niederlanden, aber auch aus der DDR, der UdSSR und der CSSR liegen nicht nur große Entfernungen, sondern auch der »Eiserne Vorhang«, der Ost und West mitten in Europa trennt. Auch die Fernschachkorrespondenzen sind davon betroffen: Nicht jeder misstrauische Zoll- oder Postbeamte erkennt auf einer Postkarte, deren Inhalt nur aus der Zeile »Bxc5 dxc5« besteht, einen profanen Schachzug, zumal wenn diese Karte auch noch aus der DDR kommt und an eine Adresse in der BRD gerichtet ist. Handelt es sich vielleicht viel mehr um einen gerissenen Schachzug des politischen Gegners, ist gar Spionage im Spiel?
Zehn Mannschaften mit jeweils sechs Spielern starten zwei Jahre vor dem Mauerfall, jeder spielt gegen jeden, macht neun Partien pro Spieler. Gleichzeitig natürlich, denn sonst würde eine Olympiade nicht nur wie prognostiziert vier Jahre, sondern Jahrzehnte dauern. 1989 folgen die politischen Umwälzungen in Mittel- und Osteuropa, drei der teilnehmenden Staaten - die DDR, die UdSSR und die CSSR - hören im Laufe der nächsten Jahre auf zu existieren, die Schachspieler aus der DDR sehen sich auf einmal in einem gemeinsamen Staat mit der westdeutschen Mannschaft, während sich die Mannschaften der UdSSR und der CSSR ab 1991 bzw. 1994 in verschiedenen Staaten wiederfinden. Trotz der radikalen Änderungen der Lebensumstände der Spieler: Die Olympiade abzubrechen steht nicht zur Debatte, Veränderungen der Grenzen drücken sich vielleicht in neuen Absendern und Zieladressen auf den Karten aus, das jahrtausendealte Spiel tangieren sie jedoch nicht - die neuen Grenzen gelten erst ab der nächsten Olympiade.
Bis die startet, wird es allerdings noch eine Weile dauern. Im Frühjahr 1991, also ungefähr zum prognostizierten Ende der zehnten Olympiade, gibt Karl-Heinz Maeder aus Frankfurt am Main in einer Partie gegen den Ostberliner Fritz Baumbach auf. Die beiden frischgebackenen Landsleute nehmen es sportlich. Baumbach, 1982 Vizeweltmeister und 1988 Weltmeister im Fernschach, kommentierte nach der 1995 beendeten Olympiade gegenüber der »Berliner Zeitung« trocken: »Ich habe bis 1949 für Deutschland gespielt, dann für die DDR und jetzt spiele ich für die Bundesrepublik. Wer weiß, unter welcher Fahne ich noch antreten werde.«
Bis März 1995 dauert der Wettbewerb noch an, bereits 1993 hat die DDR die Bronzemedaille sicher. Jetzt heißt es wieder warten, noch länger als zuvor: Die Öffnung des Eisernen Vorhangs hat die Spieler zeitlich weiter auseinanderrücken lassen, gegenseitige Besuche sind jetzt einfacher als die Übermittlung der Züge per Post: Gerade Briefe und Karten in und von den Nachfolgestaaten der UdSSR sind jetzt teilweise wochen-, manchmal monatelang unterwegs. Als die Olympiade dann endlich vorbei ist, taucht die DDR noch einmal in den Medien auf, Fernsehstationen fragen nach, Baumbach wird zu Günther Jauchs »Stern TV« eingeladen: Vier Jahre nach dem Mauerfall und der Wiedervereinigung holt der von der Landkarte verschwundene Staat noch einmal eine olympische Medaille. Was für ein Anachronismus!
Sommer 2014. An der Rathausbrücke geht der Blick nach Westen über neuen Sichtbeton am Spree-Ufer hinauf, der Blick ist durch den großen Rohbau des Schlosses verstellt. Die Erinnerung an die DDR ist mit dem Schriftzug und der klaffenden Lücke wieder ein wenig mehr aus dem Stadtbild verschwunden. Dreht man sich aber um 180 Grad und lässt den Blick an der Fassade der Plattenbauten im Nikolaiviertel hinaufwandern, fällt ein anderer Schriftzug ins Auge: »Berlin - Stadt des Friedens« und die Friedenstaube. Auch so ein Stück DDR, das die Zeit zwar überdauert hat, aber in der gesamtdeutschen Hauptstadt immer mehr als Anachronismus erscheint.
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