Bilder einer Ausschreitung
2013 protestierten in Rio 300 000 Menschen, am Jahrestag der Demos kamen nur etwa 300
Manchmal müssen auch Revolutionäre vorsichtig sein: Jedenfalls wenn es Freitagabend ist und sie womöglich noch etwas vorhaben. Julia, 29, hat also ihre Gasmaske lieber in die Handtasche getan. Julia ist eine von etwa 300 Demonstranten, die sich an diesem Freitagabend im Stadtzentrum getroffen haben, um für ein besseres Brasilien zu demonstrieren. Doch die Bullen, sagt sie, erschienen ihr heute besonders streitlustig: »Hier sind schon einige Leute herausgezogen worden, nur weil sie eine Maske dabei haben.«
Eine halbe Stunde vorher hatten sich etwa 30 Protestierer getroffen. Julia war das beinahe peinlich. 30 Protestierer, umgeben von einer dreimal so großen Schar von Presseleuten: Lokale und internationale Fernsehteams auf Motivsuche. Reichlich Fotografen. Ein WM-Reporter mit FIFA-Akkreditierung um den Hals. »Mídia Ninjas« mit GoPRO-Kameras an den Skateboardhelmen, auf denen »Presse« steht. Umrandet wird die Schar der Protestierer und Reporter wie gewohnt von gut zweihundert Militärpolizisten. Sie tragen gepanzerte Schutzanzüge, die sie wie Michelinmännchen aussehen lassen. Ständig wieseln Fotografen oder Demonstranten um sie herum, halten ihnen Kamera oder iPhone ins Gesicht. Die Polizisten, die ihre Helme noch nicht tragen, geben sich Mühe, keine Miene zu verziehen. Auch ein paar Touristen und Schaulustige filmen fleißig.
Immerhin ist die Menge der Demonstrierer auf etwa 300 Menschen angewachsen, als sich der Zug gegen halb sieben in Bewegung setzt. »300 Leute, es ist unbegreiflich«, sagt Julia kopfschüttelnd. »Vor einem Jahr waren wir noch so viele, und es hat sich doch nichts verbessert.« Julia ist Portugiesisch-Lehrerin an einer Sekundarschule, manchmal muss sie in einer Grundschule aushelfen. »Die Verhältnisse dort sind schrecklich, keine Lehrmittel, keine Lehrer - die Kinder lernen einfach nichts. Und in unseren überfüllten Krankenhäusern liegen die Menschen auf Matratzen auf dem Fußboden. Manche sterben, weil gerade kein Arzt zugegen ist.«
300 000 Menschen waren am 20. Juni 2013 allein in Rio auf die Straßen gegangen, insgesamt waren es eine Million Menschen in 80 Städten, die besseren Nahverkehr und ein funktionierendes Gesundheitssystem forderten. Doch die Protestwellen rund um den Confederations Cup sind verebbt, im Juni 2014 sind die Teilnehmerzahlen bestenfalls vierstellig.
In São Paulo waren es vergangene Woche angeblich einmal 6000 Demonstranten, doch weil die Polizei die Aktivisten von den Stadien fernhält, sind die Proteste bestenfalls ein Internet- und Fernsehereignis. Nach Europa schaffen es die Demos immerhin noch als Kurznachrichten.
»Viele Leute sind in diesen Tagen Fußball-besoffen«, glaubt zum Beispiel Danniel. Er ist 44, er stammt aus Juiz de Fora, einer Stadt im Bundesstaat Minas Gerais, etwa 200 Kilometer von Rio entfernt. Fürs Wochenende ist er nach Rio gekommen, Freunde besuchen, und heute nur unter den Protestierern, weil er zufällig gerade in der Nähe war. Danniel sagt, er sei Musiker, sein Geld verdiene er aber als Journalist für den Verband der Hochschullehrer. »Viele haben schlicht Angst, hierherzukommen. Sieh Dir diese martialische Polizei an, das steht doch in keinem Verhältnis. Ist das Demokratie? Nein. Freunde haben mir geraten, nicht hierherzugehen, weil die Polizei ohne Vorwarnung Tränengas einsetzt.«
Dennoch ist er dabei. Auch weil seine Freundin Lara, 28, zur Demo gekommen ist. Sie untersucht die Protestierer und die mediale Wahrnehmung für ein Universitätsprojekt. Dass selbst zu den heutigen Jubiläumsprotesten, zu denen gleich mehrere Gruppen aufgerufen haben, kaum jemand kommt, begründet Danniel mit der mangelhaften politischen Bildung durch die Schule. »Die Probleme mit dem Schulwesen in Brasilien sind keine Probleme. Sie sind ein Projekt.«
Der Demonstrationszug zieht derweil gemächlich weiter. Dem Zug folgen etwa zwei Dutzend schwarze Pickups, in denen Beamte der »Choque« sitzen, der berüchtigten Schocktruppe der Militärpolizei, dahinter fahren Busse mit noch mehr Polizisten. Zwei Hubschrauber kreisen über dem Stadtteil Centro. Ab und an gibt es Aufregung, weil die Polizei jemanden aus der Gruppe zieht. Gerade war es ein Teenager, der seine Gasmaske offen zur Schau gestellt hatte. Sofort bildet sich ein Rudel aus Polizisten, kapuzentragenden Black-Bloc-Aktivisten, Fotografen und Kameraleuten. Es gibt Geschrei und Geschiebe, dann einen Knall. Eine Tränengaspatrone explodiert in der Nähe. Ruhigen Schrittes machen die Leute einen Bogen um den Nebel. Und nach einigem Diskutieren lassen die Polizisten den Teenager wieder gehen. Auf den Protestwebseiten ist dieser Tage von 150 festgenommen Demonstranten seit Beginn der WM vor anderthalb Wochen die Rede, landesweit.
Als die Jubiläumsdemonstration schließlich das Ausgehviertel Lapa erreicht, fährt auch noch eine Staffel Polizeimotorräder auf. Crossmaschinen, mit den man gut durch die engen Gassen von Lapa fahren könnte. Die Beifahrer haben ihre Tränengasgewehre im Anschlag: Sieben gelbe Patronen füllen ein Magazin. Revolutionsreporterin Anna filmt die Motorradfahrer mit ihrem Tablet-PC. Den trägt sie bereits den ganzen Abend vor sich her. Anna filmt jede Demonstration, ihre Bilder werden direkt live ins Internet gestreamt. »Wir können so die Übergriffe der Polizei dokumentieren«, sagt sie, »manchmal wissen die Leute so auch, wo sie besser nicht hingehen sollen.« Ab und zu sehe man auf ihren Bildern auch Leute in Zivil, die die Gewalt provozieren würden, sagt sie: »Das sind Leute von der Polizei, die die Ausschreitungen schüren wollen. Man erkennt sie leicht.«
Nahe den Arcos da Lapa, den weißen Steinbögen, die zu Kolonialzeiten als Aquädukt dienten, ist die Demo am Ziel. Ein paar vom Black bloc versuchen, eine Straße zu blockieren. Die »Choque« rückt vor, Tränengaspatronen fliegen. Und vor laufenden Kameras sprüht die Militärpolizei Demonstranten Pfefferspray ins Gesicht. Revolutionsrituale. Als gegen 21 Uhr schließlich alles vorbei ist, ist Julia gegangen. Sie brauchte mal dringend eine Toilette, außerdem ist Freitag, sie will noch ausgehen. Ein paar Demonstranten stehen um ein kleines Lagerfeuer, an dem drei Rapper noch ein paar Songs vortragen.
Am nächsten Tag wird es die Demo zwar kaum in die internationale Presse, immerhin auf die Website von »O Globo« geschafft haben: »Acht Personen festgenommen«. Auch das russische Auslandsfernsehen von »Russia Today« sendet zwei Videos in die Welt - hier sieht das Ganze krawallig genug aus. Blaulicht, verhüllte Protestierer, rennende Demonstranten. »Choque«-Polizisten bei einer Festnahme. Wer die Bilder sieht, könnte einen Moment lang tatsächlich glauben, Brasilien sei in Aufruhr.
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