Nicht immer so negativ, Kapitalismus!

Ingo Stützle erklärt warum die Minus-Zinsen der EZB nicht das Ende der Marktwirtschaft einläuten

  • Ingo Stützle
  • Lesedauer: 4 Min.

Plötzlich war es da, das Ende. »Welt« und »Spiegel Online« titelten: »Das ist das Ende des Kapitalismus«. Was war passiert? Hatten die Menschen endlich mit dem alten Schlawiner Schluss gemacht? Nein, EZB-Chef Mario Draghi hatte die Zinsentscheidung verkündet, die viele bereits erwartet hatten: Nicht nur wurde der Leitzins auf 0,15 Prozent gesenkt, sondern zudem wurde ein Negativzins von 0,1 Prozent für Bankeinlagen bei der EZB eingeführt.

Zum Leitzins leihen sich die Geschäftsbanken Geld bei der Zentralbank, um damit unter anderem Kredite zu vergeben. Die Kreditvergabe an Unternehmen lässt in den Augen der EZB jedoch zu wünschen übrig. Deshalb der Negativzins. Er soll die Geschäftsbanken dazu »zwingen«, Unternehmen Geld zu leihen, statt das Geld wieder bei der EZB anzulegen. Ist der Einlagezins bei der EZB nämlich negativ, machen die Geschäftsbanken einen Verlust.

Unternehmen, die dringend Kredit bräuchten, bekommen kein Geld - Banken ist das zu riskant. Niemand kann versprechen, dass sie das Geld wiedersehen. Andere Unternehmen wollen keinen Kredit. Zwar machen sie Profit, aber ihre Produktion kreditfinanziert auszuweiten, wird als zu riskant eingeschätzt - so rosig sind die Gewinnaussichten nun auch wieder nicht. Das Geld bleibt deshalb bei den Banken oder fließt an Finanzmärkte. Die Folge: Der Dax nimmt die 10 000-Punkte-Hürde und die Banken besitzen so viel Staatsanleihen wie schon lange nicht mehr.

Die politische Klasse der Euro-Peripherie begrüßte den Schritt der EZB. Sie hoffen, damit den ersehnten Wirtschaftsaufschwung schon bald begrüßen zu können, nachdem durch Sparhaushalte und Lohnkürzungen zwar die Kosten für das Kapital gesenkt wurden, aber eine Verschärfung der Krise die Folge war. Die Reaktionen in den Euro-Kernländern, allen voran Deutschland, ist spiegelbildlich anders. Das zeigt: Die Euro-Zone ist tief gespalten.

In den unterschiedlichen Reaktionen auf die EZB-Entscheidung kommen jedoch auch die beiden notwendigen Seiten eines Kreditverhältnisses zum Ausdruck: Schuldner und Gläubiger. Während der Schuldner möglichst wenig Zins bezahlen will, erhofft sich der Gläubiger eine hohe Rendite. Dass die deutsche Wirtschaftspresse, als vermeintliches Sprachrohr des kleinen Sparers, de facto aber als Dolmetscher des Dominanzanspruchs der deutschen Wirtschaft und Wirtschaftspolitik, vom Ende des Kapitalismus fabuliert, ist hingegen ein interessantes Lehrstück. Schließlich bringen die Wortmeldungen zum Ausdruck, was Marx den Kapitalfetisch nannte, die Vorstellung nämlich, dass einer bestimmten Summe Geld scheinbar die natürliche Eigenschaft zukommt, mehr zu werden, nur weil es Geld ist.

Mehr werden kann Geld aber eben nur, wenn es als Kapital fungiert, akkumulieren kann, Ausbeutung von Arbeitskräften stattfindet. Ausbeutung lohnt sich für das Kapital jedoch nur, wenn Profit winkt, wenn die Kosten für das Einzelkapital niedrig sind. Dazu gehören neben den Löhnen, die dank der Troika bereits massiv geschliffen wurden, auch die Zinsen. Während das erste auch für das deutsche Kapital von Interesse war, sind die niedrigen Zinsen für das Kapital in der Gläubigerposition alles andere als toll - schließlich wird dem Geldkapital derart eine hohe Verwertung verweht.

Was jedoch selbst Linke in der Verteidigung der EZB-Politik oft vergessen, ist, dass ein Kreditverhältnis eben nur dann zustande kommt, wenn Profit winkt. Da helfen weder niedrige Zinsen noch Strafzinsen, die die Geschäftsbanken dank ihrer Gewinne an den Finanzmärkten leicht wettmachen können. Die kapitalistische Produktionsweise ist, das zeigt die EZB-Entscheidung, eine bornierte Produktionsweise, weil ihr unmittelbarer Zweck der Profit ist. Niedrig- und Negativzinsen sind deshalb keine politischen Entscheidungen, die den Kapitalismus abschaffen, sondern umgekehrt: Sie sind erstens Ausdruck dafür, dass Profite in der Euro-Peripherie noch nicht an der Tagesordnung sind. Und zweitens dafür, dass in der Krise die Gläubiger vor Entwertung ihres Geldkapitals bewahrt wurden: Das Bankenkapital wurde - in den USA und der EU zusammen - mit etwa 3300 Milliarden Euro gestützt. Das Geldkapital kann vor dem Hintergrund einer verhinderten Entwertung seinen Anspruch auf Verwertung aufrechterhalten, einen Anspruch, dem die Akkumulation des industriellen Kapitals nicht nachkommen kann. Die nächste Krise kommt bestimmt.

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