Drohende Schließung abgewendet
Das EJB-Jugenddorf vor den Toren Berlins bleibt als einzigartige Begegnungsstätte erhalten
Der 1. Juli 2014 war gewiss kein normales Datum im Kalender der Europäischen Jugenderholungs- und Begegnungsstätte (EJB) am Rande der Schorfheide. Schon am frühen Morgen hallte das Kreischen von Motorsägen und Steinfräsen über den weiten Werbellinsee. Der Lärm ist auch an der beschaulichen Uferpromenade im Nachbarort Altenhof (Barnim) nicht zu überhören. »Das geht schon seit Tagen so«, sagen die ersten Kaffee-Gäste beim Imbiss an der leeren Badewiese. »Die haben dort auch am Wochenende durchgearbeitet.«
Oberflächlich betrachtet, herrscht auf dem Gelände des Jugenddorfs Alltag. Am Rande des Strandbades haben sich die ersten Projektgruppen versammelt, um das Vormittagsprogramm zu besprechen. Ein paar Spieler testen die Beachvolleyball-Anlage und einige ganz Mutige springen in das glasklare Wasser. Zwischen den denkmalgeschützten Unterkunftsgebäuden der einst im Stil der ausgehenden Stalin-Ära erbauten ehemaligen Pionierrepublik wimmelt es geschäftig. Gerade machen sich die rund 600 Teilnehmer am »Youth for Understanding«-Camp zur Abreise bereit. Wie jedes Jahr hatten sich Austauschschüler aus verschiedenen europäischen Ländern nach einem erlebnisreichen Jahr für fünf Tage zum Fachsimpeln, Netzwerken und Feiern am Werbellinsee eingefunden. Es herrschte eine Mischung aus Müdigkeit, Spaß und Abschiedsschmerz.
• 1949 beschließt der DDR-Ministerrat die Errichtung einer Erholungsstätte für Kinder und Kriegswaisen.
• Am 16. Juli 1952 weiht Präsident Wilhelm Pieck das 105 Hektar große Lager ein, es trägt fortan den Namen »Pionierrepublik Wilhelm Pieck«.
• Bis 1989 ist das Volksbildungsministerium Träger, Eigentümer die Freie Deutsche Jugend (FDJ).
• In den Folgejahren wird die Pionierrepublik zur zentralen Erholungs- und Schulungseinrichtung der Pionierorganisation »Ernst Thälmann« entwickelt. 12- bis 14-jährige erleben dort neben Sport- und Freizeitspaß auch eine sozialistische Schulung.
• Von 1960 an bis zum Ende der Ära als Pionierrepublik findet alljährlich das »Internationale Sommerlager« statt - 1989 werden Delegationen aus 50 Ländern in aller Welt begrüßt.
• Nach den politischen Umwälzungen in der DDR führt das Amt für Jugend und Sport die Einrichtung als »Kinderland am Werbellinsee« weiter, am 3. Oktober 1990 geht sie in den Besitz des Landes Brandenburg über.
• Von 1991 bis 1996 übernimmt der Internationale Bund für Sozialarbeit (IB) Trägerschaft und Betrieb der »Europäischen Jugenderholungs- und Begegnungsstätte Werbellinsee«.
• 1997 bewahrt die Übernahme durch die kommunale Grundstücksentwicklungsgesellschaft (GEG) Joachimsthal die EJB vor dem Ende. Nach dem Rückzug der GEG versucht das Land ab 1999, die Anlage wiederholt zu privatisieren. Schließlich wird sie 2003/2004 an die private Investorengemeinschaft WS Werbellinsee GmbH & Co. KG. verkauft.
• Seit Jahren läuft die Sanierung und Modernisierung des seit 1992 unter Denkmalschutz gestellten Gebäudeensembles. Mehr als 100 000 Übernachtungen zählt man pro Jahr.
• Rund 200 Gäste kann die EJB täglich betreuen - mit Unterkunft, Verpflegung sowie zahlreichen Sport-, Freizeit- und Schulungskapazitäten. Rund 85 Mitarbeiter umfasst derzeit das Team. tm
Doch in der Rezeption ist die Stimmung angespannt, in der Geschäftsführung des EJB Werbellinsee findet sich kein Ansprechpartner. Denn hier ist gar nichts mehr alltäglich, seit eine Woche zuvor ein Schüler der Europaschule aus Ketzin (Havelland) beim Schulausflug auf dem Gelände tödlich verunglückt ist. Es war ein Unfall. Und so mischt sich in die Trauer um den Zwölfjährigen die Sorge um die Sicherheit der mehrere Hundert Gäste und Besucher, die sich in diesen Tagen in der Einrichtung aufhalten. Bei einer ersten Sondierung hatten Vertreter der Berufsgenossenschaft Nahrungsmittel und Gastgewerbe (BGN) zahlreiche Sicherheitsmängel festgestellt. Die BGN als Träger der gesetzlichen Unfallversicherung der Einrichtung hatte daraufhin die sofortige Schließung des Jugenddorfes angeordnet. Gemeinsam mit der Unfallkasse Brandenburg, der Versicherung des toten Schülers, hatte man jedoch einen »Sofortmaßnahmeplan« zur umgehenden Beseitigung der gröbsten Sicherheitsmängel erstellt und die Schließung bis zum 1. Juli ausgesetzt.
Es war der Druck dieses »Ultimatums«, der an diesem Tag überall zu spüren war. Und der jene hektische Betriebsamkeit ausgelöst hatte: Zahlreiche Wege wurden trassiert, an den gesperrten Treppenabgängen zum Strandbad wurde fieberhaft gearbeitet, überall waren Baufahrzeuge unterwegs. Kräfte des Landkreises Barnim sowie des Technischen Hilfswerkes unterstützten die EJB-Mitarbeiter. In all dem Trubel erfolgte die Begehung der Anlage durch die Experten von Berufsgenossenschaft und Unfallkasse, die sich einen Eindruck von der Umsetzung der Vorgaben verschafften. Ihre Einschätzung ließ die Verantwortlichen aufatmen: »Es sieht gut aus«, signalisierte die Berufsgenossenschaft am Abend.
»Die gravierendsten Mängel wurden abgestellt, noch vorhandene Gefahrenbereiche sind gesperrt. Von einer Stilllegung der EJB Werbellinsee können wir absehen«, sagte BGN-Sprecher Michael Wanhoff dem »nd« am Mittwoch. Das bedeutet, dass zunächst die baufälligen Treppen zum Strand zu sperren und zu sanieren waren und bisher offene Brunnenschächte zu verschließen waren. Auch die Baumarbeiten waren gemeint. Gemeinsam habe man für die kommende Zeit einen insgesamt 70 Punkte umfassenden Maßnahmeplan erarbeitet, so Wanhoff. »Wichtig ist, dass die Gefahr für Gäste, Besucher und Mitarbeiter minimiert wird.«
Der Unfalltod des Schülers hat auch ein juristisches Nachspiel. Die Staatsanwaltschaft Frankfurt (Oder) ermittelt gegen den EJB-Betreiber wegen fahrlässiger Tötung. »Wir prüfen, ob eine Verletzung der Verkehrssicherungspflicht vorliegt«, zitiert die dpa einen Sprecher der Staatsanwaltschaft. Der bauliche Zustand der Treppe, an der der Junge vor gut einer Woche gestürzt und gestorben sei, deute auf eine Pflichtverletzung hin. In einer am Mittwoch veröffentlichten Erklärung drückt EJB-Geschäftsführer Reinhard Meier seine Erschütterung und die seiner Mitarbeiter über den Tod des Jungen aus und äußert sein Beileid gegenüber den Angehörigen. »Mir ist es wichtig, dass die Umstände des Unfalltodes lückenlos aufgeklärt werden«, betont er. Und er fügt hinzu: »Ebenso ist es mir wichtig, dass Schaden von der EJB am Werbellinsee, als wichtigem Eckpfeiler des Tourismus im Barnim und im Land Brandenburg, abgewendet wird.«
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.