Kommentatoren

Leo Fischer war Chefredakteur des Nachrichtenmagazins »Titanic«. An dieser Stelle kümmert er sich 
vierzehntäglich um den 
liegen gelassenen Politikmüll und dessen sachgemäße Entsorgung

Im Mittelalter, als die Verhältnisse noch übersichtlich waren, gab es für praktisch jede Lebensangelegenheit exakt einen Zuständigen: den König auf dem Thron, den Papst in Rom, den Teufel in der Hölle und die Hexe beim Grillbedarf. Auch die Geisteswelt war vorbildlich wohlgeordnet: Man kannte genau einen Philosophen, Aristoteles, den man deswegen auch einfach nur »den Philosophen« nannte, und seinen Kommentator, Averroës, der als einziger das Gesamtwerk eben des Philosophen gelesen hatte und wegen seiner (etwas lang geratenen) Amazon-Rezension einfach nur »der Kommentator« genannt wurde.

Durch verschiedene historische Fehlentscheidungen - Lutherkriege, französisch-industrielle Revolution, Stahlpakt - gerieten die Verhältnisse reichlich durcheinander, und Napoleon, der so viele weise Reformen durchsetzte, versäumte leider, den europäischen Meinungsmarkt zu ordnen. Nun herrscht in der Branche Wildwuchs, es fehlen einheitliche Produktionsstandards, eine Kommentar-DIN. So kommt es, dass der Beruf vor allem die Schamlosen, die Präpotenten und die Wahnsinnigen anzieht, also pfeilgrad die Leute, die ihre Meinung hinter den höchsten Bergen zu halten hätten.

Nun gibt’s das Internet, der Wahnsinn wächst exponentiell, und wer in den letzten Tagen die Nerven hatte, auf den großen Portalen die Leserkommentare zu den entführten und ermordeten israelischen Jugendlichen zu lesen, der sehnte sich direkt ins Mittelalter zurück. Die Kälte und Bösartigkeit eines vermeintlich liberal-bürgerlichen Publikums auf den Seiten von FAZ und Tagesschau machte schier sprachlos: Von ordinären Gemeinheiten wie »Netanjahu wird’s freuen« bis zu mörderischem Unfug wie »es war der Mossad« wurde keine menschliche Verdorbenheit ausgelassen.

Um Irrsinn und Enthumanisierung zu zügeln, beschäftigen die Onlineredaktionen von »Spiegel«, »Welt« und »Süddeutsche« schon länger Dienstleister wie Disqus, die sich den Tort antun, das ganze Gequalle zu lesen und notfalls zu »depublizieren«. Bei wirklich heißen Eisen, besonders in Sachen Ausländer, Israel, Homosexualität, wird die Kommentarfunktion mittlerweile serienmäßig abgeschaltet, weil die Presse genau weiß, was sie da erwartet, und weil sie sich ihrer Leser schämt, ohne sie jedoch verlieren zu wollen. Uns Freunden des Mittelalters muss das als halbherzig erscheinen - Meinungsfreiheit bedeutet schließlich nicht, dass alle eine Meinung haben müssen. Es braucht vielmehr wieder den einen Kommentator, der eine freie Meinung hat. Ob man sie teilt oder nicht, mag dann jeder für sich selbst entscheiden, Hauptsache, er tut es im Stillen.

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