Abgeklärt bis zum Schluss
Das 7:1 gegen Brasilien will die DFB-Elf erst Sonntag feiern - zusammen mit dem WM-Titel
»Meine Leistung war auch nicht so schlecht. Ich habe aber auch schon andere gute Spiele gemacht.« So lautete Toni Kroos lapidare Einschätzung seiner Leistung nach dem 7:1 der DFB-Elf gegen Brasilien im WM-Halbfinale. Eine Einschätzung, die im krassen Gegensatz zur Bewertung durch Experten und Kommentatoren steht, die dem deutschen Team Wunderfähigkeiten unterstellen oder zumindest für eine fußballerische Zeitenwende verantwortlich machen: Es gibt jetzt vor und nach »dem 7:1«.
»Das war Fußball von einem anderen Stern. Das ist historisch für den deutschen Fußball und für den Weltfußball.« Wolfgang Niersbach, DFB-Präsident, brach als Einziger der deutschen Delegation, mit der Linie des Teams, jetzt nicht abzuheben: »Wir sind noch nicht am Ziel. Wir müssen die Kirche im Dorf lassen«, sagte Thomas Müller. »Es ist noch nichts erreicht«, sekundierte Teammanager Oliver Bierhoff. Und Bundestrainer Joachim Löw wollte von Euphorie gleich gar nichts wissen: »Ein bisschen Demut ist jetzt auch ganz gut, es geht weiter. Wir müssen jetzt aufpassen, dass wir bis zum Finale am Sonntag konzentriert bleiben.«
Bis auf Niersbach zeigten die deutschen Vertreter auch nach dem Spiel das, was sie in den 90 Minuten auf dem Platz in Belo Horizonte gegenüber einer nur ganze drei Minuten, bis zum ersten Distanzschuss von Marcelo, mithaltenden brasilianischen Mannschaft demonstrierte: ihre Abgeklärtheit auf und neben dem Platz. Brasiliens Trainer Felipe Scolari versuchte die Ausfälle von Thiago Silva und Neymar mit Dante und Bernard positionsgetreu zu ersetzen, verordnete seiner Mannschaft einen sehr aggressiven Spielrhythmus, was dieser schließlich zum Verhängnis wurde. Statt positionsorientiert suchten die Spieler der Selecao immer wieder mannorientiert Zweikämpfe, rückten dafür aus dem Defensivverbund heraus und rissen so erst die Lücken auf, in die vor allem Sami Khedira und Toni Kroos im Mittelfeld hineinstoßen konnten. Den Zweikämpfen ging die DFB-Elf durch geschickte Ballzirkulation aus dem Weg, obwohl sie ihr Gegenpressing schon früh in der brasilianischen Hälfte aufzog. Vor allem Bastian Schweinsteiger auf seiner absichernden Position hatte oft den Raum, zu ihm zurückgespielte Bälle ruhig zu verarbeiten und Angriffe neu anzukurbeln.
Spätestens nach dem 1:0 durch Thomas Müller hätte die brasilianische Mannschaft das Tempo herausnehmen müssen, um sich neu zu ordnen. Stattdessen setzte nun ein, was schlicht als Panikreaktion zu bezeichnen ist: Die Selecao versuchte sich mit noch mehr Aggressivität zu wehren, agierte in der Defensive noch hektischer, vor allem David Luiz rückte immer kopfloser aus der letzten Abwehrlinie heraus, was schließlich zum Chaos zwischen der 23. und 29. Minute inklusive vier Gegentoren innerhalb von sechs Minuten führte. Die deutsche Mannschaft nutze diese, mit Schwächephase nur unzureichend beschriebenen, chaotischen Minuten effizient zu vier eigenen Treffern. Am Ende des gesamten Spiels hatte sie bei sieben eigenen Treffern insgesamt nur 14 mal aufs Tor geschossen.
Nach dem 5:0 durch Sami Khedira war das Spiel entschieden. Nach 29 Minuten. Die deutschen Spieler blickten sich teilweise ungläubig an, aber schnell wandten sie sich der wohl nun schwersten Aufgabe des Abends zu: Das Spiel vernünftig zu Ende zu bringen. Anständig zu gewinnen kann gegen einen psychisch gerade völlig zusammengebrochenen Gegner schwieriger sein, als anständig zu verlieren. Die DFB-Elf hatte aus den sechs Chaos-Minuten des brasilianischen Teams das Optimum herausgeholt, änderte zwar bis zur Halbzeit nicht ihr Spiel, nahm das Tempo jedoch heraus.
In der zweiten Hälfte verteidigte die deutsche Mannschaft deutlich tiefer stehend, um Kräfte für das Finale zu sparen. Vielleicht wäre sogar noch so etwas wie Spannung aufgekommen, hätte Manuel Neuer im deutschen Tor nicht die Chancen von Oscar (52.) und Paulinho (53.) vereitelt. Aber auch diese brasilianische Druckphase verlief sich, als sich die deutsche Mannschaft wieder verstärkt ihrem Gegenpressing zuwandte. In der Schlussphase der Partie konnte Joachim Löw es sich sogar erlauben, noch einmal sein System umzustellen: Nach den Einwechslungen von Andre Schürrle (58. für Miroslav Klose) und Julian Draxler (76. für Khedira) rückte Mesut Özil in die Zentrale auf die 10er-Position, die deutsche Mannschaft setzte nun fast nur noch auf Konterangriffe, die noch zu zwei Toren durch Schürrle und einer vergebenen Großchance durch Özil kurz vor Schluss führte, in deren Gegenzug Oscar den einzigen brasilianischen Treffer zum 7:1-Endstand markierte.
Mit Abpfiff ärgerte sich Neuer noch über den aus seiner Sicht völlig unnötigen Gegentreffer, er und seine Teamkameraden nahmen sich dann aber direkt ihrer geschlagenen Gegner an. Noch auf dem Rasen trösteten sie die Spieler in Gelb, die an diesem Abend in Belo Horizonte keine adäquate Gegenwehr leisten konnten. Neuer, Kroos und Co. hatten schon während des Spiels den Seitenwechsel des brasilianischen Publikums bemerken können, das deutsche Ballstafetten nun bejubelte, den brasilianischen Stürmer Fred dagegen bei jedem Ballkontakt gnadenlos ausbuhte. Der Demütigung auf dem Spielfeld musste keine nach dem Abpfiff folgen: Mit dieser historischen Klatsche sind die brasilianischen Spieler wahrscheinlich bis an ihr Lebensende genug bestraft, mag sich Schweinsteiger gedacht haben, als er Dante, seinen Kollegen vom FC Bayern München, nach dem Spiel umarmte.
Vor allem hatten die deutschen Spieler schon auf dem Feld und in der Halbzeitpause Zeit, das Spiel richtig einzuordnen. Die Höhe des Sieges machte sie und Trainer Löw nach dem Spiel in der Bewertung eher vorsichtiger: Sicher, die deutsche Mannschaft war taktisch genau richtig eingestellt, spielte ein überragendes Pressing und war im Abschluss extrem effizient. Brasilien hatte es ihnen allerdings in der Nachbetrachtung auch zu einfach gemacht: Die Ausfälle von Silva und Neymar konnten nicht kompensiert werden, die aggressiven Pressingversuche der Selecao rissen erst die entscheidenden Lücken in der eigenen Verteidigung auf, nach dem ersten Gegentor geriet sie schlicht in Panik. »Weltmeister ist noch niemand im Halbfinale geworden« - noch so eine lapidare Einschätzung von Kroos nach dem Spiel. Außer dem DFB-Präsidenten sahen das alle im deutschen Team genauso. Sie hatten aber ab dem 5:0 auch mehr als eine Stunde Zeit, darüber nachzudenken.
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