Mehr Wert als Neymar

Brasilien: Ein nationaler Bildungsplan soll das Schulsystem verbessern

  • Andreas Knobloch
  • Lesedauer: 4 Min.

An diesem Wochenende geht die Fußball-WM in Brasilien zu Ende. Die Proteste vor der WM gegen das Großereignis, das dem Land Milliarden Reais kostete und für dessen Infrastruktur Stadtviertel der Armen geräumt wurden, sind fast vergessen. Viele der Proteste richteten sich in den Monaten vor der WM gegen den maroden Zustand des brasilianischen Bildungssystems. »Alô Brasil! Vamos acordar! Um professor vale mais do que o Neymar!« (Hallo Brasilien! Wachen wir auf! Ein Lehrer ist mehr wert als Neymar!) war einer der immer wieder gehörten Slogans der Demonstranten.

Die Proteste hatten zumindest teilweise Erfolg. Ein Ergebnis ist die Billigung eines Nationalen Bildungsplans. Vier Jahre lang war er im Parlament diskutiert, seine Verabschiedung wegen fehlenden Einvernehmens zwischen den Parteien aber immer wieder verschoben worden. Ende Juni nun hat Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff endlich ihre Unterschrift unter das Werk gesetzt.

Der Plan legt zwanzig Ziele für die kommenden zehn Jahre fest: u.a. soll durch flächendeckende Grundschulbildung Analphabetismus beseitigt, das Angebot an Vollzeitschulen will man stark ausweiten und die Anzahl der Hochschulplätze erhöhen. Die Lehrinhalte selbst und ihre Ausgestaltung bleiben dagegen Sache der Bundesstaaten und Kommunen. Darüber beabsichtigt die Regierung, die Ausbildung der Lehrkräfte zu verbessern und die Reallöhne der Lehrer anzuheben. Geplant ist, im fünften Jahr nach Inkrafttreten des Bildungsplans mindestens sieben Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für den Bildungssektor aufzuwenden. Schrittweise will mann diesen Anteil auf bis zu zehn Prozent erhöhten. Aktuell fließen laut Bildungsministerium 6,4 Prozent des BIP in Bildung. Finanziert werden soll der Bildungsplan aus den Einnahmen aus dem Verkauf der Förderlizenzen der riesigen Tiefsee-Vorkommen vor der Küste Brasiliens.

Einer der meistkommentierten Punkte des Bildungsplans sind die geplanten Lohnerhöhungen. Der Beruf des Lehrers gehört zu den am schlechtesten bezahlten in Brasilien - kurioserweise gemeinsam mit dem des Polizisten. Nach den Plänen der Regierung sollen die Gehälter der Lehrer im staatlichen Bildungssystem um rund 40 Prozent steigen. Damit könnten sie - zumindest auf mittlere Sicht - endlich auf ein Gehalt kommen, das in etwas ihrer Qualifikation entspricht. Im Moment liegt der Durchschnittslohn brasilianischer Lehrer bei 1700 Reais im Monat (rund 570 Euro).

Aber mehr Geld alleine reiche nicht, sagt Daniel Cara, der die Nationale Kampagne für das Recht auf Bildung koordiniert. Die geplante Anhebung der Gehälter sei zwar ein erster Schritt, aber unzureichend. »Es ist positiv, aber die Herausforderung ist, darüber hinaus zu gehen und den Lehrerberuf tatsächlich attraktiver zu machen. Das ist nicht nur eine Frage des Gehalts.«

Bildung ist ein sensibles Thema in Brasilien, nicht nur wegen der geringen Löhne. Fast monatlich streiken Lehrer aufgrund der schlechten Arbeitsbedingungen. »Heutzutage will niemand Lehrer werden in Brasilien. Andere Berufe sind attraktiver. Warum sollte sich jemand das Lehramt antun?«, fragt Priscila Cruz von der NGO Todos Pela Educação. Sie erinnert an die schlechte Ausstattung öffentlicher Schulen. »Man muss nicht sehr weit fahren, um das zu sehen. Es reicht, in die Peripherie von São Paulo zu fahren. Die Klassenräume sind Backöfen, in die kein Licht hereinkommt. Und wenn ich schon den Räumen keinerlei Wert beimesse, dann auch den Lehrern und den Schülern nicht.«

Die Mängel spiegeln sich in der Qualität der Ausbildung wieder. Eine Erfahrung, die Brasilien schmerzlich machen musste. Weil das Land zu wenig in Bildung, Ausbildung und Forschung investiert hat, fehlten angesichts des starken Wirtschaftswachstums der vergangenen Jahre genügend gut ausgebildete Arbeitskräfte, vor allem Ingenieure und Techniker, aber auch Wissenschaftler und andere.

Die Regierung Rousseff ist sich dieses dringenden Mangels bewusst, und hat über das Bildungsministerium eine Reihe von Initiativen gestartet, um vor allem technische Berufe und naturwissenschaftliche Fächer zu fördern. Zudem wurden staatliche Stipendien-Programme geschaffen, die Schülern aus einkommensschwachen Familien den Zugang zu Privatschulen ermöglichen. Es wird geschätzt, dass mindestens 40 Prozent der Hochschüler von Förderprogrammen der Regierung profitieren.

Mehr Qualität ist damit nach Ansicht von Experten aber nicht zu erwarten. »Wir haben es geschafft, immer mehr Kinder in die Schule zu bekommen, aber gleichzeitig ist die Qualität gesunken«, bemängelt etwa Cruz die Kehrseite der Medaille. Viele Bildungseinrichtungen in Brasilien erhöhen ihre Schüler- und Studentenzahlen, da sie dann mehr Fördergelder einstreichen. Für viele ein gutes Geschäft. »Brasilien ist das Land mit der höchsten Zahl an Hochschulinstitutionen mit finanziellen Gewinninteressen weltweit«, weiß Ryon Braga von der auf Bildung spezialisierten Consultingfirma Hoper. »Es wird neues Geld in alte Strukturen gesteckt«, so Braga. Eine Kritik, die auch dem neuen Bildungsplan entgegenschlägt.

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