Der Mythos vom Straßenfußball
Schwierige Suche nach dem spontanen Spiel im Großstadtdschungel von Brasilien
In einem Hinterhof in Itaquera, im sozial ärmeren Osten von Sao Paulo kicken sich Vinicius und Ronaldo Rai auf einem kleinen eingezäunten Bolzplatz die Bälle zu. Es ist Sonntagvormittag. Als sie auf dem Platz ankamen, war er verwaist. Auch der Betonplatz ein paar Straßenecken weiter, ist noch leer. Also warten Vinicius und Ronaldo Rai. Auf Mitspieler.
Es ist nicht mehr ganz so einfach, Fußball spielende Kinder in den Straßen der brasilianischen Metropolen zu finden. Caio Vilela ist geübt darin. Vilela ist Fotograf und hat sich auf Straßenfußball spezialisiert, den sie in Brasilien nur ›peladas‹ nennen. In 65 Ländern hat er sich schon auf die Suche des Wesens des Straßenfußballs gemacht. »Im Grunde ist es so, je ärmer die Gegend ist, desto mehr Straßenfußball findet man.« Im Nordosten Brasiliens, in den afrikanisch geprägten Bundesstaaten, ist er deutlich prägender als im Süden, in den europäisch orientierten Metropolen.
Vilela weiß, wie er ihn findet: »Wenn ich neu in einer Stadt bin, suche ich als erstes nach einem Taxistand. Dort höre ich zu, wer der kommunikativste Fahrer ist, und den bitte ich dann, mich zu Plätzen zu führen, wo Kinder Fußball spielen.« Oftmals sind das kleine betonierte Bolzplätze oder lehmige Hinterhöfe, manchmal auch der Strand, nur selten offene Wiesen. Im Gegensatz zu jedem anderen Brasilianer, den man fragt, hat Vilela keinen Lieblingsklub.
Der 16-jährige Vinicius hat sich dagegen festgelegt. Für ihn ist der FC Sao Paulo das Maß aller Dinge. Der 15-jährige Ronaldo Rai, nach den zwei brasilianischen Fußballstars der neunziger Jahre benannt, hat es dagegen der FC Santos angetan. Die meisten Menschen in Sao Paulo halten zu Corinthians, dem Club, der nach der Weltmeisterschaft das neue Itaquera-Stadion bespielen wird. Nur wenige Blocks von dort entfernt hat sich mittlerweile der 13-jährige Pedro zu den beiden Jungs dazugesellt.
Entscheidend sei auch die Uhrzeit, verrät Vilela. Nachmittags ab halb fünf ist es gut, und dann, bis die Sonne untergeht. »Plätze wie diesen könnte ich überall finden«, sagt Caio Vilela in Itaquera, auf der einen Seite begrenzt eine etwas mehr als zwei Meter hohe Wand das nur noch an wenigen Stellen grüne Feld. »Vor allem, wenn man eine Stunde aus Sao Paulo raus fährt, gibt es die überall.« In den Metropolen hat eine Verdrängung stattgefunden. Urbanisierung, Immobilienbau, Wirtschaftswachstum.
»Vor zehn Jahren noch konnten wir überall auf den Straßen spielen, aber mittlerweile müssen wir uns mit den Autos und dem Verkehr messen, ständig müssen wir unterbrechen«, erzählt der junge Student Everton, 22, aus Sao José dos Campos, eine Stunde von Sao Paulo entfernt. Er selbst spiele deshalb nicht mehr oft Fußball. Und wenn, dann geht er mit ein paar Freunden auf einen öffentlichen Platz. Fünf Reais zahlt jeder dafür.
In Rio de Janeiro verläuft die Aterro Campos Society mit gleich acht Plätzen Hunderte Meter neben der Praia de Flamengo. Hier kickt abends eine Freizeittruppe, während auf einem Nachbarplatz Jugendmannschaften des beliebtesten Vereins in Rio trainieren. Die komplette Ausbildung hat sich enorm professionalisiert. Längst halten brasilianische Nachwuchsmannschaften nicht mehr nur dank ihrer Technik und Physis mit europäischen Gleichaltrigen mit. Nicht umsonst sind die gefragtesten Exporte heute Defensivspieler. Auch das Scouting findet mittlerweile flächendeckend statt, so dass kaum noch ein talentierter Spieler auf den Straßen einer Favela oder im Amazonasgebiet unentdeckt bleibt.
Auch durch Caio Vilela, der in 150 Städten in allen 27 Bundesstaaten Straßenfußball fotografiert hat. »Ich schaue mir Fußball an wie eine Ballettaufführung, wegen der Schönheit der Bewegung.« Als Vinicius, Ronaldo Rai und Pedro in ihren sozialen Wohnbaukomplex zurückkehren, stürzt sich ein halbes Dutzend Jungs spontan auf den Ball. Vilela zückt noch ein letztes Mal die Kamera. Er hat sein Motiv gefunden.
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