Die Inspiration der Bolschewiki
Vom Reden und Handeln wider den Krieg
Der politische Streik ist ein heißer Brei, um den gerne herumgeredet wird - viele schnuppern dran, aber niemand will die Sache auslöffeln. Frank Bsirske etwa verlangte 2010 medienwirksam das politische Streikrecht, nahm jedoch dezent Abstand davon, seine zwei Millionen ver.di-Mitglieder zu mobilisieren. Diverse Gruppen und Grüppchen der radikalen Linken verlangt es noch kräftiger nach dem Politstreik, doch fehlen ihnen Mittel und Methode, um derartiges anzuzetteln - nicht einmal ein anständiger Universitätsstreik kam in den letzten Jahren zustande.
Aber auch zu Hochzeiten der Bewegung war politischer Streik ein unbequemes Thema. Elf Jahre musste die Arbeiterbewegung diskutieren, bis im Juni 1916 der erste politische Streik zustande kam - ironischerweise ohne jedes Zutun der Großkopferten von Rechts oder Links, sondern als Aktion der Basis.
Schon 1905 hatte Rosa Luxemburg den Massenstreik als Auftakt zur Revolution gefordert. Eduard Bernstein, Vater des Revisionismus, wollte mit ihm wenigstens das allgemeine Wahlrecht durchsetzen - doch es fand sich niemand, den Streik auch durchzuführen. Denn die Gewerkschaften weigerten sich schlicht und erklärten den Generalstreik für anarchistischen Unsinn: Lieber solle man organisatorische Kleinarbeit betreiben und Mitglieder werben.
Es folgten Konferenzen zwischen SPD und Gewerkschaftsführungen. Man beschloss, nichts zu beschließen und der Streik fand nicht statt. Auch im August 1914 nicht, als die Kriegsmaschinerie des Hohenzollernstaates auf die Kooperation der Arbeiterbewegung angewiesen war.
Zwei Jahre Krieg, Millionen Tote, Hungersnot und ungezähltes menschliches Elend brauchte es dann, bis die von Anfang an verhaltene Stimmung zum Krieg kippte - im Juni 1916 wurde gestreikt. Entscheidend hierfür war ein Netzwerk gewerkschaftlicher »Obleute«, Ehrenamtliche, die die Funktion von Betriebsvertrauensleuten hatten. Die Basis musste selbst handeln, denn SPD und Gewerkschaftsführung hatten den Krieg unterstützt, noch in den letzten Kriegstagen rief das sozialdemokratische Zentralorgan »Vorwärts« zur Zeichnung von Kriegsanleihen auf.
Auch die »Revolutionären Obleute« hatten lange gezögert, bis ihnen der Kragen platzte. Entstanden war die Gruppe aus der Opposition der Berliner Metallarbeiter gegen den Kurs ihrer Führung im Deutschen Metallarbeiter-Verband, dem Vorläufer der IG Metall. Wesentlichen Anteil am Aufbegehren hatte der Dreher Richard Müller. Er organisierte am Rande von scheinbar unpolitischen Bierfesten Treffen kriegskritischer Gewerkschafter und schweißte aus ihnen ein Widerstandsnetz. Jeder Obmann eines Großbetriebes hatte Vertrauensleute in den Abteilungen, das Netzwerk gewann langsam aber sicher Einfluss auf Hunderttausende von Arbeitern und Arbeiterinnen in der Rüstungsindustrie.
Der »Liebknechtstreik« vom 28. Juni 1916 war ihre erste Aktion - ein Solidaritätsstreik gegen die Verurteilung Karl Liebknechts, der auf einer Antikriegsdemonstration am 1. Mai 1916 verhaftet worden war. Obwohl sich etwa fünfzigtausend Streikende beteiligten, erreichte die Aktion ihr Ziel nicht: Liebknecht wurde verurteilt und kam erst im Oktober 1918 wieder frei. Doch für die sozialistische Friedensbewegung bedeutete das die Wende. Der Staat wollte mit dem Prozess Stärke zeigen und offenbarte stattdessen die eigene Schwäche. Nun begann ein Kampf zwischen der Friedensbewegung und dem Staat, den Obleute mit der Waffe der Arbeitsverweigerung austrugen. Sie agierten strategisch, riefen nicht jeden Tag zum Ausstand auf, sondern warteten gezielt, bis sich der Unmut angestaut hatte.
Im April 1917 war es wieder soweit, als die Lebensmittelknappheit einen Höchststand erreicht hatte. Das Volk hungerte, stundenlang musste für Brot und Fleisch angestanden werden, und wenn dann die Zuteilung mangels Masse vorzeitig beendet wurde, kam es nicht selten zu regelrechten Hungerkrawallen. Die Schutzpolizei zögerte nicht, mit gezogenem Degen in die Menge zu reiten. Doch am 16. April 1917 war sie überfordert, als in ganz Deutschland etwa 400 000 Menschen streikten und demonstrierten. Viele davon waren Frauen, sowohl hungernde Hausfrauen als auch selbstbewusste Industriearbeiterinnen; während die Männer im Krieg standen, mussten sie die Fabrikarbeit mit übernehmen. Frauen stellten, so einige Zeitzeugen, den größten Teil der Streikenden.
Obwohl auch der zweite Massenstreik im April 1917 ergebnislos abgebrochen wurde, gaben die dissidenten Gewerkschafter nicht auf. Mit Hilfe der gerade gegründeten Unabhängigen Sozialdemokratie (USPD) weiteten Müller und seine Obleute ihr Netzwerk aus. Der nächste Schlag erfolgte am 28. Januar 1918 und war deutlich radikaler. Das Signal hatte ein spontaner Massenstreik in Wien gegeben, doch die eigentliche Inspiration kam aus Moskau und Petrograd: Dort hatten die Bolschewiki im Oktober 1917 die Macht übernommen und boten den Deutschen sofortigen Frieden in den Grenzen von 1914 an. Die kaiserlichen Generäle weigerten sich jedoch und bestanden auf gigantische Gebietsabtretungen - unter anderem hatten sie es auf die Ukraine abgesehen, die politisch »unabhängig«, faktisch jedoch ein Vasallenstaat des Deutschen Reiches werden sollte.
Der durch dreiste Militärs verspielte Frieden reizte die Heimatfront zum Aufstand. Der Januarstreik 1918 übertraf noch den Aprilstreik, 750 000 Menschen sollen sich beteiligt haben. Gefordert wurden nun nicht mehr nur Brot und Friede, sondern auch freie Wahlen und die Demokratisierung des Deutschen Reiches. Eine revolutionäre Forderung in einem Staat, in dem zwar gewählt wurde, am Ende jedoch der Kaiser die Minister einsetzte. Der Streik wurde niedergeschlagen, die Forderungen ein drittes Mal nicht erfüllt.
Jeder der drei Massenstreiks war mit hohem persönlichen Risiko verbunden, Tausende streikende Arbeiter wurden zur Armee eingezogen, viele von ihnen ließen ihr Leben an der Front und erlebten das Kriegsende nicht mehr. Die Oberste Heeresleitung regierte unterdessen mit eiserner Hand. Sie setzte im Osten, in Brest-Litowsk, ihren »Siegfrieden« durch, besetzte ein Drittel des sowjetrussischen Territoriums und kalkulierte auf einen militärischen Sieg im Westen. Ein Pokerspiel mit hohem Einsatz - zu hohem Einsatz. Im Sommer 1918 brach die Westfront zusammen, Fahnenflucht und Verweigerung griffen um sich, die deutsche Armee war nicht mehr einsatzfähig.
Nun stellte sich die Machtfrage: Alles oder nichts. Die Revolutionären Obleute trafen sich im Herbst 1918 regelmäßig mit USPD und Spartakusgruppe, um ihre Aktionen zu koordinieren. Das größte Gewicht hatten dabei die Obleute. Sie waren mit ihren Erfahrungen aus drei Massenstreiks die einzigen, die über ein aktives Netzwerk in den Betrieben verfügten, und die Autorität hatten, einen revolutionären Generalstreik Realität werden zu lassen. Auf geheimen Treffen waren daher einzig die Obleute stimmberechtigt - sehr zum Verdruss Karl Liebknechts und seiner Spartakusgruppe, die Aktionen forderten. Doch die Obleute setzten sich durch und blieben bei ihrer bisherigen Taktik. Sie warteten, bis auch in Berlin die Autorität des Militärs am Tiefpunkt angelangt war.
Erst ganz zuletzt gaben sie den Weg frei und mobilisierten ihre Basis in den Betrieben. Der vierte politische Massenstreik am 9. November 1918 war erfolgreich. Er ging jedoch nicht als Streik in die Geschichte ein, sondern als deutsche Novemberrevolution, die das Ende des Kaiserreichs besiegelte.
Vom Berliner Historiker Ralf Hoffrogge erschien 2008 im Karl-Dietz-Verlag eine Biografie über Obmann Richard Müller.
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