Verloren am Ostbahnhof
Zahl der Obdachlosen aus Osteuropa steigt rapide - Hilfsangebote gibt es aber kaum
Die beiden Männer im Wartehäuschen der Bushaltestelle Erich Steinfurth Straße am Berliner Ostbahnhof blicken starr geradeaus ins Nichts. Neben ihnen liegen zwei leere Flaschen Bier, Wein und ein Kräuterschnaps. Es ist kurz nach neun Uhr am Dienstagmorgen. Hinter ihnen steht fast jeden Tag derselbe ältere Mann mit einem Kaffeebecher am Bahnhofseingang, den er wortlos den vorbeieilenden Passanten hinhält. Kaum einer nimmt von ihm Notiz. Oft sitzen junge Männer neben ihm, unterhalten sich auf Polnisch.
Dass die Zahl der Wohnungslosen aus Osteuropa seit der geltenden Freizügigkeit ab 2011 nicht zugenommen habe, kann Ursula Czaika, Leiterin der Bahnhofsmission am Ostbahnhof nicht bestätigen. »Die Zahl derer, die aus dem EU-Ausland bei uns Hilfe suchen, hat sich in den letzten Jahren vervielfacht. Die der Deutschen allerdings auch.« Der täglich verkehrende Regionalexpress aus Frankfurt/Oder spielt ebenfalls eine Rolle. »Der Ostbahnhof ist schon lange das Eingangstor aus Osteuropa«, sagt Czaika. Angefangen habe es, als vor zehn Jahren die ersten Putzfrauen aus Kostrzyn ihre Mittagspause in der Bahnhofsmission verbrachten. Inzwischen kommt einmal wöchentlich eine Übersetzerin und verweist die vor allem männlichen Obdachlosen auf die Beratungs- und Hilfsangebote, meist auf Polnisch Russisch Bulgarisch oder Rumänisch. Meist bleiben ihnen jedoch nur die extrem niedrigschwelligen Angebote, wie Suppenküchen, ärztliche Notfallversorgung oder Notunterkünfte, die allen offen stehen.
- Als Wohnungslos gilt eine Person, die über keine eigene Unterkunft (Mietwohnung etc.) verfügt und in den meisten Fällen in einem Heim der Wohnungslosenhilfe untergebracht ist. Laut der Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales gibt es in Berlin 11 000 Wohnungslose.
- Von Obdachlosigkeit wird gesprochen, wenn die Person weder über einen festen Wohnsitz verfügt, noch in einer Einrichtung untergekommen ist. Offizielle Zahlen gibt es nicht, da keine Registrierung erfolgt. Wohlfahrtsverbände schätzen die Zahl der Obdachlosen auf 2000 bis 4000 Menschen.
- EU-Migranten erhalten im Fall von Obdachlosigkeit erst nach einem halben Jahr Arbeitstätigkeit in Deutschland Anspruch auf Leistungen der Wohnungslosenhilfe. Obdachlose Migranten bleiben daher nur niederschwellige Angebote, wie die Notübernachtungen im Winter. rdm
»Wenn, wie oft, die wichtigsten Papiere fehlen, können wir nur wenig tun«, sagt Czaika. Anspruch auf Wohnungslosenhilfe hat nur, wer eine Meldeadresse in Deutschland nachweisen kann oder wenigstens ein halbes Jahr gearbeitet hat. »Für viele ist ein Job aber erst der zweite oder dritte Schritt«, sagt Czaika. Die meisten, die zu ihr in die Bahnhofsmission kommen, haben massive Alkoholprobleme, sind psychisch erkrankt. »Einen Job zu finden, ist in diesem Zustand völlig unrealistisch.« Therapeutische Hilfsangebote gibt es für obdachlose EU-Ausländer wenig. »Nur die Notversorgung ist gewährleistet«, sagt Czaika.
»Egal, ob Winter oder Sommer. Für Wohnungslose ist die Situation das ganze Jahr über einigermaßen bescheiden«, sagt Dieter Puhl, Leiter der Bahnhofsmission am Zoologischen Garten. Im Sommer sei die Lage sogar noch etwas angespannter, weil in den Wintermonaten bis zu 500 Schlafplätze durch die Kältehilfe zur Verfügung stehen. »Sobald die Notunterkünfte am 31. März schließen, kommen diese Menschen zusätzlich zu uns.« Etwa 5000 Menschen aus 95 Nationen hat Dieter Puhl zusammen mit seinen Kollegen am Zoo letztes Jahr mit drei täglichen Essensausgaben, Decken, Kleidung und Schlafsäcken ausgeholfen, wo es am Nötigsten war. »Das Hilfesystem in Berlin ist im Bundes- und Europavergleich wohl noch eines der besten«, sagt Puhl. Dabei kümmert sich ein breites Netzwerk aus karitativen Einrichtungen, meist kirchlicher Träger das ganze Jahr über, um die ca. 11 000 in Berlin lebenden Wohnungslosen, knapp 4000, schätzt Puhl, sind obdachlos.
Seit dem August 2011 gibt es die mobile Einzelfallhilfe, die sich ganzjährig um Menschen auf der Straße kümmert. Zwei Mitarbeiter sind dabei täglich in der Stadt unterwegs und suchen den Kontakt zu Wohnungslosen, egal welcher Nation. »Die meisten fühlen sich in allen Lebenslagen fehl am Platz, trauen sich auch in den schlimmsten Situationen nicht zum Arzt«, sagt Ortrud Wohlwend, Mitarbeiterin der Berliner Stadtmission.
Wie sich die Menschen letztendlich über Wasser halten, kann Ursula Czaika nicht sagen. Nach vier bis fünf Wochen sieht sie die meisten nie wieder.
Spenden: Beratungsstelle für Menschen in Wohnungsnot www.wohnungslos-berlin.de, 030-39 047 40
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.