Stich ins Herz

Der Baubeginn für den wichtigsten Teil des Tiefbahnhofs lässt die Kritik nicht verstummen

  • Marta Popowska. Stuttgart
  • Lesedauer: 4 Min.
Einst hörte man die Gegner von Stuttgart 21 sagen: Wenn die Baugrube ausgehoben wird, ist alles vorbei. Doch nun wollen einige weiter protestieren. Noch könne das Bahnprojekt gestoppt werden.

So viele wie einst waren nicht an den Absperrzaun in den Stuttgarter Schlossgarten gekommen, um gegen den Bau des Tiefbahnhofs Stuttgart 21 zu protestieren. Auch die Sicherheitskräfte hielten sich im Hintergrund. Hier und da patrouillierte ein Polizistenpärchen. Laut und auffällig waren die rund 600 Demonstranten am Dienstagvormittag aber dennoch. Ihr Unmut ist ungebrochen und die Botschaften auf den Transparenten und Plakaten sind deutlich: Von »Heute gräbt die DB sich ihre Grube im Park« bis zu »Nie mehr Grün«.

Banner hin, Protest her: Am Dienstag sind nun die Bagger im Herzen des umstrittenen Bahnprojekts angekommen. Zwar wird andernorts in Stuttgart bereits seit viereinhalb Jahren an dem Mammutprojekt gebaut, doch jetzt, 20 Jahre nachdem die Idee nicht mehr nur eine animierte Grafik ist, hat die Bahn tatsächlich damit begonnen, die Grube für den neuen Tiefbahnhof im Schlossgarten auszuheben. Auf eine offizielle Feier oder einen Spatenstich verzichtete die Bahn. Vermutlich wollte man die angekündigten Protesten nicht noch anstacheln. Zu lebhaft dürfte allen Beteiligten die Erinnerung an den Schwarzen Donnerstag im Gedächtnis sein.

Chronologie

2. April 2009: Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee (SPD), Ministerpräsident Günther Oettinger (CDU) und Bahn-Vorstand Stefan Garber unterzeichnen die Finanzierungsvereinbarung für Stuttgart 21.

2. Februar 2010: Die Bauarbeiten beginnen, begleitet von Protesten.

30. September 2010: Projektgegner versuchen vergeblich, die Fällung von Bäumen im Schlossgarten zu verhindern. Die Polizei geht mit Wasserwerfern gegen sie vor. Mehr als 100 Demonstranten werden verletzt, einige schwer. Der Tag gilt seither als Schwarzer Donnerstag.

9. Oktober 2010: An einer Demonstration gegen Stuttgart 21 nehmen bis zu 100 000 Menschen teil.

22. Oktober - 27. November 2010: In acht Runden Schlichtung streiten sich Befürworter und Gegner von S21 über die Leistungsfähigkeit des Tiefbahnhofs.

30. November 2010: Der Schlichter, Ex-CDU-Generalsekretär Heiner Geißler, spricht sich für den Weiterbau aus, verlangt aber Nachbesserungen.

27. November 2011: Eine Volksabstimmung endet mit der Niederlage der S21-Gegner: 58,8 Prozent stimmen gegen einen Ausstieg des Landes aus der Finanzierung - und damit für Stuttgart 21.

19. Dezember 2013: Erneut befasst sich ein Untersuchungsausschuss mit dem Polizeieinsatz vom Schwarzen Donnerstag. Er soll klären, ob der damalige Regierungschef Stefan Mappus als Scharfmacher fungierte.

24. Juni 2014: Start des Wasserwerferprozesses: Zwei Polizeiführern wird vorgeworfen, nicht eingeschritten zu sein, als die Wasserwerfer immer wieder direkt auf Demonstranten zielten.

10. Juli 2014: Offizieller Beginn der Arbeiten am Fildertunnel. Er soll Stuttgart 21 an die Neubaustrecke nach Ulm anbinden. dpa/nd

 

Jener Tag im Schlossgarten hat Symbolwert für den S21-Protest. Es ist der Ort, an dem am letzten Tag im September 2010 die Polizei mit Schlagstöcken und Wasserwerfern Hunderte friedlich demonstrierende Männer, Frauen und Schüler aus dem Park vertrieb. Kaum ein Medium in der Republik, das nicht die Bilder der nassen, verstörten Menschen zeigte. Vielen im Gedächtnis geblieben ist der Anblick des Rentners Dietrich Wagner, der mit seinen blutenden Augen zum Symbol der Protestbewegung und staatlicher Repression geworden ist. Wagner, dessen Verletzungen so schlimm waren, dass er in der Folge erblindete, tritt derzeit mit vier weiteren Betroffenen als Nebenkläger im sogenannten Wasserwerferprozess vor dem Stuttgarter Landgericht auf. Die Staatsanwaltschaft wirft zwei Polizeiführern fahrlässige Körperverletzung durch Unterlassung vor.

Parallel dazu beschäftigt sich ein Untersuchungsausschuss bereits zum zweiten Mal mit der Frage, ob es politischen Einfluss auf den Polizeieinsatz etwa durch den damaligen Regierungschef Stefan Mappus (CDU) gegeben habe. Und nun sollen auch Landtag, Justiz und EU-Kommission einen möglichen Zusammenhang zwischen dem umstrittenen Großen Verkehrsvertrag und dem Bahnprojekt untersuchen. Hier soll das Land mehr als 140 Millionen Euro zu viel an die Bahn gezahlt haben.

Wenn Stuttgart 21 eines ist, dann ein Projekt mit vielen Schauplätzen. Eine weitere Bühne gehört dem anhaltenden Protest der Gegner. Auch am Montag versammelten sich wieder rund 1500 Männer und Frauen zur mittlerweile 232. Montagdemonstration. Es sind nicht mehr Zehntausende, sondern meist nur noch wenige Hundert, die auf die Straße gehen. Und doch ist er hartnäckig, der Kern der Gegner. Organisiert wird der Protest in Stuttgart nicht von einer großen, sondern von zahlreichen kleinen Gruppen. Sie nennen sich Parkschützer, Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 oder ArchitektInnen für K21 - die Abkürzung steht für die von vielen Stuttgartern bevorzugte Modernisierung des bestehenden Kopfbahnhofs. Matthias von Herrmann, Projektgegner und Sprecher der Parkschützer, sieht in der Breite die Stärke: »Ein gemeinsamer Gegner schweißt zusammen. Und wenn eine Gruppe mal nicht mehr kann, weil Einzelne ausgebrannt sind, übernimmt eine andere ihre Aufgaben.«

Als Kraftverschwendung fasst von Herrmann die trotz Baubeginns fortgesetzten Protestaktionen nicht auf. Keines der Probleme sei gelöst - weder die Gefahren für Mineralwasservorkommen, die Schwachstellen beim Brandschutz noch die Finanzierungsfragen. Von Herrmann und seine Mitstreiter glauben weiterhin, dass das Projekt auf politischer Ebene noch gestoppt werden kann. »Unsere Argumente werden ja nicht schwächer. Die Leute sehen doch, dass seit vier Jahren eigentlich gar nichts passiert«, bilanziert er das Vorankommen der Bahn. Und in dieser Zeit hat es der Konzern nicht geschafft, seine Baulogistik rechtzeitig einzurichten. Sie wird erst 2015 einsatzfähig sein.

Bei einer Volksabstimmung im Herbst 2011 stimmte eine knappe Mehrheit der Baden-Württemberger gegen einen Ausstieg des Landes aus der Finanzierung des Tiefbahnhofs. Für die neue grün-rote Landesregierung war das Thema damit vom Tisch. Dies ändert von Herrmann zufolge aber nichts daran, dass »die Bahn an vielen Stellen technische Probleme hat«. Dass einige Grünen-Politiker in der Koalition weiterhin gegen das Projekt sind, dürfte nur ein kleiner Trost sein.

Derweil wird unter den Projektpartnern heftig gestritten, wer die absehbaren Mehrkosten übernehmen soll. Mittlerweile belaufen sich die von der Bahn geschätzten S21-Kosten auf 6,5 Milliarden Euro. Hinzu kommen 3,3 Milliarden Euro für die Neubaustrecke vom Stuttgarter Flughafen nach Ulm. Kritische Stimmen gehen sogar von 10 Milliarden aus.

In der Zwischenzeit baut die Bahn weiter, wenn auch für viele Kritiker verdächtig langsam. Die Fakten für den neuen Tiefbahnhof sind längst geschaffen worden. Schließlich sollen Ende 2021 die Züge unter der Erde rollen. Doch die Skepsis gegenüber dem Projekt im Land bleibt - unter Bürgern und Politikern.

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