Rätselbau auf Hiddensee
Die Puppen rappelten in ihren Koffern, Kästen, Läden, Schränken und Kisten
Das Rätselraten um den außergewöhnlichen Neubau in Vitte trieb arge Blüten. Von Touristen wurde dies und jenes gemutmaßt, wohlgemerkt von Urlaubern, denn die Bewohner der Insel wussten, was sie erwartete. Auf einer länglichen Insel bleibt nichts geheim.
Als auf dem Rohbau zwischen Kaufhalle und Blauer Scheune, Hafen und Buchhandlung »Koralle« die Richtkrone gehisst wurde, konnte man sehen, dass der Bau ein wenig aus dem ortsüblichen Rahmen fallen würde, und als am Ostgiebel gar ein Turm ragte, wurde von manchem Schlendrian eilfertig vermutet, es handle sich um einen Kirchenbau, da Vitte bisher über keinen solchen verfüge. Ein offensichtlich dem Naturschutz eng verbundener Bescheidwisser redete seiner Gattin gar frohgemut ein, dies wäre das neue Räucherhaus. Es sei so hoch und von solcher Größe, dass zur gleichen Zeit drei Schweinswale in den Rauch gehängt werden könnten. Schweinswale. Im Rauch. So, so.
Besser, wir lösen das Rätsel auf: Der Turm beherbergt einen Schnürboden. Ein Schnürboden steht an einem Theater. In ihm sind Scheinwerfer, technische Gerätschaften sowie Kulissen und Prospekte aufgehängt, die bei Bedarf herabgelassen und zu einem Bühnenbild formiert werden können. Der kurze Turm von Vitte weist also auf die zweite Spielstätte der Seebühne, des seit 1998 dort ansässigen Puppentheaters, hin. Nach wie vor lebt auf der Insel ein Puppenspieler: Karl Huck. Der wiederum kann doch aber nur an einem Ort zur gleichen Zeit spielen. Warum ein zweites Haus?
Antwort suchend öffnen wir die Tür des Neubaus und treten ein, um frisch das Geheimnis abzulauschen. Huck hinter dem Tresen bosselnd, schaut auf, ein mit kokettem Selbstbedauern unterlegtes Lächeln huscht auf sein Gesicht: »Wer nichts wird, wird Wirt«, sind seine ersten Worte, von denen keines der Wahrheit entspricht: Erstens ist aus ihm ein weltbekannter Puppenspieler geworden, und zweitens - obwohl er die Getränke zubereitet und mit unnachahmlich tapsiger Grandezza serviert - ist er nur hilfsweise Wirt. Allerdings geht er in dieser Rolle in einem Maße auf, dass er nie eine Bestellung notiert, egal wie viel Leute am Tisch sitzen und wie oft sie ihre Wünsche korrigieren. Wer ungefähr vierzig Stücke im Kopf auf Abruf parat hat, für dessen Gedächtnis stellt eine Bestellung keine Herausforderung dar.
Warum also eine zweite Spielstätte? »Es blieb uns nichts anderes übrig«, erzählt er mit Unschuldsmiene. »Die Puppen rappelten in ihren Koffern, Kästen, Laden, Schränken und Kisten. Es wurde ihnen zu eng und zu langweilig. Sie waren es leid, unbeachtet ihr Dasein zu fristen. Die Scharniere rosteten vom Rasten, es quietschte schon mal, wenn sie sich räkelten oder auf die andere Seite drehten. Der Teint wurde blass, weil das Scheinwerferlicht fehlte und - was am schlimmsten war - der Gesprächsstoff ging ihnen aus. Sie hatten sich ihre Leben erzählt, und hub eine an, nur um die Zunge beweglich zu halten eine Geschichte zu erzählen, so stöhnten die anderen: Olle Kamelle, kennen wir schon.«
Man kennt dergleichen: Sie wurden geschnitzt, gedrechselt, geschraubt, geleimt, bemalt und beklebt, um sich zu zeigen, um tätig zu sein, um mit Ernsthaftigkeit und Schabernack die Karten der Welt neu zu mischen. Sie waren zum Spielen bestellt. Die Untätigkeit legte sich mit der Zeit wie Staub aufs Gemüt. Ihr Temperament drängte nach körperlicher und geistiger Bewegung, Unruhe bemächtigte sich ihrer, sie wollten sich diesen Zustand nicht länger gefallen lassen und stachelten sich gegenseitig an. Meuterei lag in der Luft.
Den beiden Herrschaften auf der Kommandobrücke des Unternehmens, Huck und seiner Kapitänin Wiebke Volksdorf, wurde angst und bange. Sie verstopften sich die Ohren, es half nicht. Sie nächtigten, Ruhe suchend, in den Dünen - es nutzte nichts. Als es ihnen zu arg wurde, gingen sie auf weitere Reisen. Zwar schleppten sie ihr Päckchen mit, aber sie sahen auch Neues und ließen sich inspirieren. So geschehen auf Sizilien, in Palermo: Il Museo internazionale delle marionette namens Antonio Pasqualino.
»Das machen wir auch«, sagte Karl Huck. »Das ist die Lösung: Ein Museum, in dem wir unsere Puppen ausstellen.« Und weiterhin erinnerten sie sich an die Häuser Pablo Nerudas, an diverse Fundstücke, die der Dichter gesammelt hatte, und daran, dass es in jedem eine Bar gab. »Das machen wir auch«, sagte Wiebke.
Und so, nach gründlicher Planung und dem Schreiben von Förderanträgen, hat Hiddensee nun ein Museum namens Homunkulus, in dem von Künstlerhand geschaffene Menschlein ausgestellt sind und in dem es auch eine Bar gibt.
»Konntet ihr zum Termin eröffnen?« fragte ich. »Fast. Wir waren nur vier Monate über die Zeit. Es scheint hierzulande nicht möglich, einen Plan oder einen Vertrag einzuhalten. Aber wir sind fertig.«
Entworfen hat das Museum Johanne Nalbach. Der ein oder andere wird das von ihr entworfene Zentrum der Bundespressekonferenz kennen, ich das Café Bravo in der Berliner Auguststraße.
Das »Homunkulus« ist beheizbar, und so kann auch im Winter gespielt werden. Und des weitern hat die zweite Spielstätte den Vorteil, dass Huck am Tage eine Vorstellung für Kleine und abends eine für Große geben kann, ohne dass umgebaut werden muss. Wobei eine Unterscheidung in Vorstellungen für Knirpse und Erwachsene nur eine gedankliche Krücke ist. Huck beherrscht die Kunst, jeden zu Tränen zu rühren oder zum Lachen zu bringen. Wir hatten es gerade erst am Abend zuvor erlebt, als er »Der Sturm«, das wohl rätselhafteste Stück Shakespeares, gab. Selbst Besucher, so um die zehn Jahre, folgten dem Geschehen eine Stunde lang mit glänzenden Augen und offenen Mündern.
Nebenbei: Ich werde beim »Sturm« das Gefühl nicht los, der Meister habe bei sich selbst gekupfert, um dem Hof eine Variation von »Was ihr wollt« unterzujubeln.
Das große Faszinosum des Puppenspiels, vielleicht der Kunst überhaupt, besteht darin, dass alltägliche Verhältnisse und Proportionen aufgehoben und Beziehungen neu gedacht werden können. Größe, Raum und Zeit spielen keine Rolle. Alles ist möglich. Mit Entzücken folgt man jeder Wendung und erwartet mit Spannung die nächste Überraschung.
Scheinbar ohne Übergang geschieht der Wechsel vom Schauspieler in Lebensgröße zu Marionetten und zu Handpuppen, ist die große Bühne der Spielraum oder wechselt der Ort des Geschehens in eine Art Puppenstube, die sich aus einem Stehpult entfaltet. Ohne jede Mühe, ja mit Vergnügen nimmt man hin, dass Huck von einer Figur in die andere schlüpft. Auf der Schauspielschule Ernst Busch folgt man dem Diktum: Der Puppenspieler muss der bestausgebildete Schauspieler überhaupt sein!
Ich erinnere mich an Kinderspiele, bei denen ein und derselbe Baustein von einem Augenblick auf den nächsten in ein Auto, eine Lok, eine Rakete oder in »Lederstrumpf« verwandelt wurde. Wichtiger als Unmengen von Spielzeug scheint mir die fantasievolle Nutzung von Wenigem. Nicht der Überfluss, der Mangel setzt Vorstellungskraft frei. Würde diese Erkenntnis sich durchsetzen, wäre das der Niedergang der Spielzeugindustrie. Unsereins hätte, um ein Schiff im Sturm darzustellen, vom Bühnenbildner einen Kahn mit Mast und Segeln entwerfen lassen und diesen auf einen Mechanismus ähnlich einem Twister auf dem Rummel gesetzt. Nicht so Huck, der verführt auf einfachere, aber umso eindrucksvollere Weise. Wie? Das verpetze ich nicht.
Und das nun ist die eigentliche Herausforderung und das ureigenste Vergnügen eines Abends in der Seebühne: Die Inbetriebnahme von Fantasie zum Zweck, Beziehungen in Frage und Verhältnisse vom Kopf auf die Füße zu stellen. Und im besten aller Fälle werden wir die aufmüpfigen Ideen mit in den Alltag nehmen.
Ein Gedanke sei an dieser Stelle eingefügt: Es ist nur ein Einzelner, der auf der Bühne agiert und am Ende den Beifall entgegennimmt. Puppenspiel stellt sich uns meist als solitäre Arbeit dar. Dem ist nicht so. Puppenspiel ist Kollektivarbeit. Der Text muss geschrieben werden, es gilt, die Puppen und das Bühnenbild zu bauen, Kostüme zu schneidern, Musik zu komponieren und einzuspielen, das Licht einzurichten, Karten zu verkaufen und die unendliche Kleinarbeit der Organisation zu bewältigen. Es braucht dramaturgische Beratung und zur Vorstellung die ordnende Hand einer Inspizientin. Es ist ein erster verzaubernder Anblick, zieht Wiebke an den Leinen, damit der Lappen zur Seite fährt und endlich den Blick auf die Bühne freigibt. Wenn also Huck sich verbeugt, so nimmt er den Beifall auch für alle Gewerke und für jeden Helfer entgegen.
Doch zurück ins »Homunkulus«: Zu sehen sind ungefähr zweihundert Exponate, Marionetten, Puppen und Bühnenbilder. Nur zwei seien genannt: Der Geigenkasten aus »Die Grille«. Nun stellen Sie sich vor, was passiert, steht Huck mit einem Geigenkasten im Handgepäck vor einem Sicherheitsmann auf einem Flugplatz und antwortet wahrheitsgemäß auf die Frage, was da drin sei: »Fünf Ameisen, eine Grille und ein Frosch.« Ob sie richtig liegen, können Sie im Logbuch Zwei nachlesen. Holger Teschke hat die Geschichte aufgeschrieben.
Dann stehe ich vor einem Kontrabass. Mein erster Besuch in der Seebühne: »Die Schatzinsel«. Ein Kontrabass als Schiff! So hatte ich das Instrument empfunden, als ich noch in einer Band spielte: ein Rettungsboot, an das ich mich im wilden Meer der Töne klammern konnte, um nicht Schiffbruch zu erleiden.
Zwar gab die Regierung des Landes ein erkleckliches Sümmchen, doch ist der künstlerische Anspruch der Kommandobrücke größer als der der Landeskasse. Diese Kluft zu überbrücken, bedurfte es einer Idee. Und hier kommen Sie, hier kommt das Publikum ins Spiel: Wer möchte, kann ein Patronat über eine Puppe übernehmen. Die Gesellschaft der Puppen ist ein getreues Abbild der menschlichen Gesellschaft. Sie ist in Klassen, und wem dieser Begriff zu genau ist, der möge Stände sagen, unterteilt, so dass es Patronate für mehr oder weniger Geld gibt. Eines wird zugesichert: Im Kreis der Schutzherrinnen und Schutzherren befinden Sie sich in bester Gesellschaft.
Im Internet: theater.hiddenseebuehne.de, homunkulus.de
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