Tradition und Heuchelei
Man wird sie nicht los, die Diskussion über Traditionsvereine und Retortenclubs. Interessanterweise sind dabei zwei gegenläufige Entwicklungen zu beobachten. Während die Fanszenen sich organisieren und geloben, bei jedem Spiel von RB Leipzig Protestbanner zu hissen, ist das Konstrukt anderorts längst etabliert. Im Journalismus, so mein Eindruck, ist es fast schon Konsens, dass die Kritik an Red Bull heuchlerisch sei, weil es im Fußball doch auch anderorten um nichts weiter gehe als den Mammon.
Das ist schlecht von der Hand zu weisen, letztlich aber vielleicht auch eine Frage der Perspektive. Während Fans, Ultras zumal, ihre Sicht der Dinge (und ihren Lifestyle) gerne verklären, merken viele Journalisten schon gar nicht mehr, wie der Zynismus ihren Alltag bestimmt. Doch wie die Fans haben auch die Journalisten keine richtige Alternative. Man kann schlecht tagein, tagaus über ein und demselben Verein schreiben, wenn man von kaum einem Spieler ein interessantes Wort und von kaum einen Funktionär eine wirklich originelle Idee erwartet.
Es geht ja auch gar nicht nur um eine moralische Frage. Wer Fußballfan ist und nicht einfach nur fußballinteressiert, merkt einfach, dass bei Spielen von Vereinen wie Nürnberg, Frankfurt, Gladbach, Köln, HSV, etc. eine andere Atmosphäre herrscht als bei Vereinen, die noch vor zehn, 15 Jahren 2367 Zuschauer hatten. Die alte Taverne an der Ecke strahlt eben auch etwas anderes aus als die brandneue Convenience-Food-Filiale. Auch wenn das Essen hier wie dort gleich beschissen sein mag.
Andererseits ist es schon auffällig, dass derzeit gerade Vereine wie der VfB Stuttgart oder der 1. FC Nürnberg, die zuletzt sportlich schwer versagt haben, so dermaßen offensiv mit ihrer Tradition werben. Beim VfB ist man zum alten Wappen zurückgekehrt (gute Sache) und hat den grausam verunglückten Spruch »furchtlosundtreu« zum Motto erkoren (einfach mal googlen, wer nicht spontan das Grauen bekommt). Auch in Nürnberg tut man allerlei, um die Fans zufriedenzustellen. Und selbstredend hört man das Wort »Tradition« bei jedem Club-Heimspiel ein paar dutzendmal.
Wogegen auch nichts einzuwenden wäre, wenn man nicht den fatalen Eindruck hätte, dass sich da ein paar schlaue Geschäftsleute die Zuneigung einer Szene erkaufen wollen, die sonst ein paar wirklich unbequeme Fragen stellen könnte. Und wenn man nicht ahnen würde, dass viele Funktionäre von Traditionsvereinen lieber heute als morgen bei RB Leipzig anfangen würden. Es fragt sie nur keiner.
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