Der Messias des trockenen Korridors

Carlos Vargas rettet mit seiner Stiftung »Esperanza de Vida« Jahr für Jahr Hunderte Kinder vor dem Hungertod

  • Knut Henkel
  • Lesedauer: 7 Min.
Die Regierung in Guatemala hat ein Programm gegen den Hunger aufgelegt. Doch das ändert nichts an den Strukturen, kritisiert Carlos Vargas, Gründer der Hilfsorganisation Esperanza de Vida.
Der Selfmademan Carlos Vargas führt seine Stiftung zur Hungerbekämpfung wie ein Unternehmen.
Der Selfmademan Carlos Vargas führt seine Stiftung zur Hungerbekämpfung wie ein Unternehmen.

Der Sonnenschutz mit dem Logo eines deutschen Chemiekonzerns steht mitten auf der Plaza Central. Über die Boxen läuft Musik, hin und wieder unterbrochen von einer Durchsage von jemand aus dem Team von Nilba Samajoa. »Der Pacto Hambre Cero wird unser Land verändern«, prognostiziert ein rundlicher junger Mann mit Kinnbart, der das weiße Poloshirt und die Baseballkappe mit dem Logo der Secretaría de Seguridad Alimentaria y Nutricional (SESAN) trägt. »Pacto Hambre Cero« (Pakt für Null Hunger) heißt das Regierungsprogramm gegen den Hunger in Guatemala, welches vom Sekretariat für Ernährungssicherheit (SESAN) geleitet wird. »Mangel- und Fehlernährung sind ein zentrales Problem in Guatemala und die Regierung von Präsident Otto Pérez Molina ist die erste, die konkret etwas gegen den Hunger tut. Unser Sekretariat, das SESAN, ist direkt dem Präsidenten unterstellt«, erklärt Frau Samajoa. Die hat mit ihrem Team auf großen Holztischen heute früh Lebensmitteltüten aufgeschichtet: Nudeln, Reis, Milchpulver, aber auch Bohnen liegen bereit. Bedürftige Familien haben Anspruch auf die Nahrungsmittelhilfe und Bedarf haben viele. In 29 von insgesamt 32 Gemeinden im Departamento Huehuetenango wird offiziellen Angaben zufolge gehungert.

Was für Huehuetenango gilt, gilt für viele der 22 Verwaltungsbezirke des mittelamerikanischen Landes. Besonders prekär ist die Situation im Corredor Seco (trockenen Korridor) im Süden Guatemalas. Dort, nahe der Grenze zu Honduras, ist die Situation seit Jahren extrem schwierig. »Oben in den Bergen der Verwaltungsdistrikte Zacapa, El Progreso und Chiquimula wird immer öfter gehungert. In den abgelegenen Dörfern finden wir immer wieder halb verhungerte Kinder, weil die Saat auf den Feldern vertrocknet«, erklärt Carlos Vargas und deutet auf ein Foto, das im Foyer des Krankenhauses seiner Organisation hängt. Darauf ist ein abgemagertes Kind zu sehen. So wie es im Hospital eingeliefert wurde und das gleiche Kind ein paar Monate später - lächelnd und mit ein paar Kilogramm mehr auf den Rippen. Eines von Hunderten von Kindern, die die Stiftung Esperanza de Vida (Hoffnung auf Leben) im letzten Jahr vor dem Hungertod gerettet hat.

Drei Teams der Stiftung sind regelmäßig in den Bergen unterwegs, um zu sehen, wo sie helfen können. Unten nahe dem Dorf Llano Verde, wo Esperanza de Vida seine Zentrale hat, warten Ärzte, Schwestern und Ernährungsspezialisten wie Jessy Polanco, um unterernährten Kindern zu helfen, die weit weniger wiegen als das, was Gleichaltrige auf die Waage bringen. »Ich habe vor ein paar Monaten ein behindertes Mädchen heruntergebracht, die noch nicht mal acht Kilogramm wog«, erklärt Vargas. Das Mädchen hat überlebt, aber sie ist in ihrer Entwicklung um Jahre zurück, so Kinderarzt Edwin Manolo Oliva.

Kein Einzelfall. Das Team im Krankenhaus kümmert sich derzeit um gut 80 Kinder, die mit einem speziellen Ernährungsprogramm wieder zu Kräften kommen sollen und vor dem Hungertod in den Bergen gerettet wurden. So wie der dreieinhalbjährige Henry, der derzeit über eine Sonde ernährt wird. Henry liegt in seiner Entwicklung schon deutlich hinter Gleichaltrigen zurück. »Das ist oft so. Fehl- oder Mangelernährung führt dazu, dass Kinder zurückbleiben.

Die mangelhafte Ernährung hinterlässt auch in den Schulen ihre Spuren. «Unterernährte Kinder kommen nicht mit und können den Stoff schlicht nicht behalten», erklärt Kinderarzt Oliva ein weiteres Problem. Das ist in Guatemala weit verbreitet. 30 bis 50 Prozent der Schüler betrifft das, so schätzen Bildungsexperten. Diese Einschätzung teilen auch Dr. Oliva und Ernährungsexpertin Jessy Polanco. Sie sind zufrieden, im Krankenhaus der Stiftung gelandet zu sein, denn beide kennen die Arbeitsbedingungen an staatlichen Häusern aus eigener Anschauung. Das Fehlen von Medikamenten und speziellen Nahrungsmitteln, aber auch die Arbeitsbedingungen sorgen dort für Frustration.

Das Krankenhaus der Stiftung ist gut ausgestattet, was auch nottut. Patienten wie Angela, ein 15-jähriges Mädchen, welches unter Hirnlähmung und Knochenverformung leidet, sind auf spezielle Zusatzpräparate angewiesen. Angela wurde vor ein paar Monaten auf einem Bett in einem Dorf im benachbarten Verwaltungsbezirk Chiquimula gefunden und wog nur wenig mehr als sieben Kilo, erinnert sich Carlos Vargas. «Ich stamme selbst aus einer armen Bauernfamilie und habe schon als Kind auf dem Feld gearbeitet. Dürre gehört hier zur Landwirtschaft dazu», sagt er und schiebt die Baseballkappe seufzend in die Stirn.

Der 61-Jährige, ein kräftiger hellhäutiger Mann, dessen Arme von Pigmentstörungen gezeichnet sind, ist mit 16 Jahren vor Hunger und Perspektivlosigkeit in die USA geflohen. Knapp 20 Jahre später ist er vermögend zurückgekehrt.

Vargas ist ein typischer Selfmademan, hat als Unternehmer in den USA Erfolg gehabt und führt seine Hilfsorganisation wie ein Unternehmen. «Wir produzieren zwei Millionen Pfund Tilapia, Hühnerfleisch, Rindfleisch, Tomaten, Auberginen, Früchte - wir ernähren uns selbst. Und die Leute kommen zu uns, um zu helfen und zahlen dafür», erklärt der umtriebige Mann mit den wasserblauen Augen und dem blonden, von grauen Strähnen durchzogenen zurückgekämmten Haar sein Konzept.

Die Leute sind dabei vor allem US-Amerikaner, die helfen wollen und bereit sind, dafür auch Geld auszugeben. 600 US-Dollar kostet die Woche bei Hope of Life, wie die Stiftung auf Englisch heißt, und Vargas bietet konkrete Projekte, um den Armen in der Region zu helfen. Beim Hausbau in Pueblo Modelo, einem Dorf nahe der Provinzstadt Zacapa, wo durch Naturkatastrophen obdachlos gewordene Familien angesiedelt werden, aber auch beim Mittagstisch auf der Müllkippe, bei der Pflege von Kindern und Alten können die US-Freiwilligen helfen. Sie entscheiden, wo sie sich engagieren wollen und Vargas liefert Anschauungsmaterial, Programme und vor allem Fotos, Fotos, Fotos. Das funktioniert. Im letzten Jahr kamen rund 8000 Leute aus dem Ausland, um bei Esperanza de Vida zu helfen.

Die Stiftung bietet Projekte an, baut Schulen, Häuser, legt Gärten an und bringt den Leuten bei, wie sie Gemüse vor der eigenen Haustür ziehen, um so weniger abhängig von den traditionellen Anbauprodukten Bohnen und Mais zu sein. Die gedeihen immer seltener in der Dürreregion und Vargas fordert, dass den Dürreopfern viel konkreter geholfen werden müsse. «Das Null-Hunger-Programm ist schön und gut, weil immerhin eingestanden wird, dass in Guatemala gehungert wird. Aber Alimentierung ist keine langfristige Alternative», moniert der Mann und fährt fort. «Man muss den Leuten Perspektiven aufzeigen.»

Vargas bietet Perspektiven und das ist ein Grund, weshalb die Armen in der Region ihn manchmal als Messias bezeichnen. Er redet den Eltern ins Gewissen, mahnt, den Kindern den Schulbesuch zu ermöglichen und baut in Kooperation mit der Regierung Schulen. «Der fehlt das Geld für die Investitionen, aber sie stellt die Lehrer», sagt er und zieht ein hilfloses Gesicht, weil er der Regierung die Arbeit abnimmt. Was tun, wenn sie ineffizient und korrupt ist, soll das in etwa heißen.

Seit Jahren kämpft der füllige Mann dafür, dass die Müllkippe der heruntergekommenen Agrarstadt Zacapa endlich geschlossen wird, weil dort ganze Familien vom Sammeln und Verwerten von Müll leben und sich in den Dämpfen von verbrennendem Plastik ihre Gesundheit ruinieren. «Drei Mal pro Woche liefern wir ein ausgewogenes Mittagessen für die rund 30 Familien, die vom Sammeln von Metall, Glas, Karton und Co. leben», erklärt Henry, der seit sieben Jahren für Esperanza de Vida arbeitet. Hin und wieder liefert er mit anderen Helfern der Organisation das Mittagessen an, aber meist ist er damit beschäftigt, Brunnen zu planen, Aufforstungsprojekte zu koordinieren oder wie derzeit eine Saatgutbank aufzubauen. Die Vielfalt der Aufgaben reizt den 35-jährigen Techniker, der einer von rund 300 Mitarbeitern der Organisation ist.

Esperanza de Vida ist kontinuierlich gewachsen und für die guatemaltekische Regierung ein wichtiger Partner, die deren Kinder-Nothilfe-Arbeit auch finanziell bezuschusst. Deutlich weniger als nötig, aber das ist für Vargas ein typisches Problem. «In Guatemala müssen wir lernen mehr soziale Verantwortung zu übernehmen», mahnt er. Doch genau das ist ausgesprochen selten in dem Land, wo sich der Besitz der fruchtbaren Äcker in den Händen weniger Familien konzentriert und wo Investitionen in den Armutsregionen selten sind. Das könnte sich zumindest im Corredor Seco alsbald ändern. Mitte März stellte das Agrarministerium ein Weiterbildungsprojekt für rund 30 000 Familien in der Region vor. Neues, besseres und gegen die Trockenheit resistenteres Saatgut will die Regierung gemeinsam mit einer UN-Organisation den Familien liefern und ihnen beibringen, wie sich wassersparender, effektiver und ertragreicher anbauen lässt. Ein Schritt, den der Messias des Corredor Seco sicherlich begrüßt.

Resteverwertung zum Überleben: Kinder, die mit ihren Familien auf der Müllkippe von Zacapa leben
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