Es begann mit einer Lüge
Kalenderblatt
»Seit 5 Uhr 45 wird zurückgeschossen.« - Mit diesen im Radio übertragenen Worten Adolf Hitlers begann in den frühen Morgenstunden des 1. September 1939 der Zweite Weltkrieg. Geschossen wurde anschließend auf die Westerplatte im Danziger Freihafen. Doch nicht »zurück«. Der Krieg begann mit einer faustdicken Lüge. Zuerst schossen die Deutschen - und zwar auf dem Gelände des Senders Gleiwitz, der angeblich zuvor von polnischen Freischärlern überfallen worden war. Tatsächlich hatten Deutsche den Anschlag verübt. Ihr Anführer Alfred Naujocks gab später zu Protokoll, der Chef des Sicherheitsdienstes, Reinhard Heydrich, habe ihn instruiert, »einen Anschlag auf die Radiostation bei Gleiwitz in der Nähe der polnischen Grenze vorzutäuschen und es so erscheinen zu lassen, als wären Polen die Angreifer gewesen.«
Entsprechend musste ein Opfer präpariert und nach Gleiwitz transportiert werden. Es stammte perfiderweise aus dem KZ Sachsenhausen. Naujocks nahm den armen Mann in Empfang: »Er war am Leben, aber nicht bei Bewusstsein. Ich versuchte, seine Augen zu öffnen. Von seinen Augen konnte ich nicht feststellen, dass er am Leben war, nur von seinem Atem. Ich sah keine Schusswunden, nur eine Menge Blut über sein ganzes Gesicht verschmiert. Er trug Zivilkleider.« Gemeinsam mit fünf Komplizen, alle mit polnischen Uniformversatzstücken und Haarschnitten nach polnischer Militärmode ausgestattet, drang Naujocks in den Dienstraum unterhalb des hölzernen Sendeturms ein. Die wenigen Angestellten dort waren schnell überwältigt, gefesselt und in einen Kellerraum gesperrt. Anschließend verkündete einer von Naujoks Männern, der perfekt Polnisch sprach, über das Mikrofon, die Zeit für eine Auseinandersetzung zwischen Polen und Deutschland sei gekommen und der Sender Gleiwitz fest in polnischer Hand. Die Ansprache endete mit »Hoch lebe Polen!«
Später schleppte man zwei weitere Häftlinge aus Sachsenhausen heran, denen zuvor eine tödliche Injektion verabreicht worden war und denen man sodann Schusswunden zufügte - um der Weltöffentlichkeit den Eindruck zu vermitteln, es habe tatsächlich einen polnischen Überfall auf eine sich auf deutschem Territorium befindliche Sendeanlage gegeben. So konnte Hitlers Wehrmacht ab 4 Uhr 45 tatsächlich »zurückschießen«.
Alfred Naujocks nahm in der Folge an weiteren verdeckten Aktionen teil, die Vorwände für kriegerische Vergeltungsschläge liefern sollten, u. a. in Dänemark. Auch bei diesen Provokationen wurden Menschen gezielt getötet. In den letzten Kriegsmonaten lief er zu den Alliierten über. Außer einer dreijährigen Haftstrafe in Dänemark hatte er keine juristischen Folgen zu tragen. Naujocks starb 1966 in Hamburg, wo er die letzten vierzehn Jahre seines Lebens als erfolgreicher Geschäftsmann verbrachte.
»Der Fall Gleiwitz«, ein Spielfilm der DEFA aus dem Jahr 1961, wird am 1. September ab 23.40 Uhr vom MDR und am 3. September ab 23.15 Uhr vom RBB ausgestrahlt.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.