Ausnahmezustand in Calais
Rechtsextreme machen mobil gegen Einwanderer / Großbritannien will der Hafenstadt Absperrungen vom NATO-Gipfel schenken
Mehrere hundert Einwohner von Calais haben unlängst gegen überwiegend aus Ostafrika stammende Einwanderer demonstriert, die sich in der Hoffnung auf einen Überfahrt nach Großbritannien in der französischen Hafenstadt aufhalten. Die Migranten sollen zu einer immer stärkeren Belastung für die Stadt und ihre Bewohner geworden sein, so die Meinung von verschiedenen populistischen und rechtsextremen Splittergruppen, die am Sonntag zu einer Kundgebung im Zentrum der Stadt unter dem Motto »Retten wir Calais« aufgerufen hatten. Von diesen Gruppen stehen einige dem Front National (FN) nahe. Mit ihrer Absicht hielten sie nicht hinterm Berg. Auf einem Plakat stand in dicken Lettern: »Schmeißen wir sie raus!«
Die rund 1200 Flüchtlinge in Calais und Umgebung kampieren in Parks oder in den Dünen am Meer, werden von Hilfsvereinen versorgt und versuchen Nacht für Nacht, auf einen der Lastwagen nach Großbritannien zu gelangen. Angesichts dessen hatte die zur rechten UMP-Partei gehörende Bürgermeisterin Natacha Bouchart im August vom sozialistischen Innenminister Bernard Cazeneuve ein Lager zur Unterbringung zumindest eines Teils dieser Menschen gefordert.
Dabei vergessen hat sie offensichtlich, dass es ihr ehemaliger Parteichef Nicolas Sarkozy war, der 2002 in seiner Funktion als Innenminister für die Schließung des Flüchtlingslagers in Sangatte bei Calais gesorgt hatte. Sarkozy war sich sicher, dass ohne diesen »Magneten für Flüchtlinge« das Problem gelöst sei. Doch es kamen immer neue Einwanderer - und weder die frühere rechte noch die gegenwärtige linke Regierung haben ernsthafte Schritte unternommen, um mit dem Problem umzugehen.
Innenminister Cazeneuve hat vor einigen Tagen bei einem Besuch in der Region zugesagt, ein ehemaliges Militärlager bereitzustellen. Das liegt allerdings etliche Kilometer von Calais entfernt und hat eine begrenzte Kapazität. Darauf nahm der ehemalige FN-Lokalpolitiker Kevin Reche aus Calais auf der Kundgebung Bezug. Er erklärte: »Die Regierung schlägt die Eröffnung eines Lagers für 400 Mann vor, aber es sind 1 300 in der Stadt und machen die Straßen unsicher. So kann man das Problem nicht lösen.« Alle Redner forderten, die Ausländer aus Calais zu »vertreiben«, sie auszuweisen und die Grenzen zu schließen. Thomas Joly, Generalsektretär der »Partei für Frankreich«, die von ehemaligen Funktionären des Front National gegründet worden war, forderte die Einwohner von Calais auf, Selbstverteidigungs-Milizen zu bilden.
Die meisten der von der Polizei auf 250 und von den Organisatoren auf doppelt so viele geschätzten Demonstranten waren einfache Bürger der Stadt. Hinzu kamen aber noch viele oft von fern angereiste junge Männer mit Glatzköpfen und in Lederkleidung. Gegen die rechte Kundgebung demonstrierten wenige Dutzend Angehörige linker Organisationen. Eine Einheit von Bereitschaftspolizisten hatte sich zwischen diesen und den Rechten positioniert, um Zusammenstöße zu verhindern. Eine Frau aus den Reihen der Demonstranten ergriff das Wort und erklärte, sie sei auch unzufrieden über die vielen Ausländer in der Stadt. Deshalb sei sie gekommen. Doch jetzt sei sie empört über die rassistischen Reden, die sie hier höre. Darauf hin wurde sie ausgepfiffen und von zwei breitschultrigen Schlägertypen weggeführt. Später erklärte die 48-jährige Françoise gegenüber Journalisten: »Wenn Calais genug Geld hätte, könnte man diesen Flüchtlingen helfen. Es sind schließlich auch Menschen. Aber zu viel ist zu viel. Doch das ist kein Grund, zum Rassisten zu werden.«
Unterdessen kündigte die britische Regierung Hilfe für das überforderte Calais an. Der konservative Einwanderungsminister James Brokenshire schrieb in einem Beitrag für »Sunday Telegraph« (Sonntagsausgabe), seine Regierung wolle der Hafenstadt die Absperrungen schenken, die zur Sicherung des NATO-Gipfels in Wales dienten. Diese könnten die »unangemessenen« Absperrungen in Calais ersetzen oder ergänzen.
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