Was uns bleibt: Der Strickpullover

Birgit Vanderbeke ist mit »Der Sommer der Wildschweine« wieder in ihrem Element

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 4 Min.

Seit 1990, als sie beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt »Das Muschelessen« vortrug, bin ich Birgit Vanderbeke treu. Ich mag ihre langen, gewunden Sätze, ihre Art, mit Wörtern Schleifen zu drehen. Unbefangenes Plappern, so scheint es; eine Frau sagt, was sie denkt, die Wirkung ist ihr egal. Die Kunst dieser Autorin ist von gewiefter Art, aber ihr Streben nach innerer Unabhängigkeit ist keine Täuschung. Sie hat sich frei gemacht, davon erzählt sie. Oder erzählt sie davon, weil es ihr Wunsch ist?

Dem Literaturbetrieb dient sie sich nicht an - lange hat sie keinen Preis bekommen - , aber unabhängig vom Buchmarkt kann sie nicht sein. Sie muss produzieren. 18 Bücher in 24 Jahren - meist aus der Ich-Perspektive einer Frau, die sie selber sein könnte und die wie sie Deutschland den Rücken kehrte. Der Sternenhimmel über südfranzösischer Landschaft ist ihr wichtiger als das Gejage und Gehetze daheim.

Im neuen Buch erinnert sich die Ich-Erzählerin, wie sie mit ihrem Mann Milan bei einem Urlaub in der Bretagne »a la belle étoile« geschlafen hat und am Morgen 27 Kühe um sie herum standen. Nun machen sie seit langem mal wieder Ferien - im Haus eines abwesenden Bekannten im Languedoc. Aber sie bleiben lieber im Zimmer unter ihrer großen Decke, denn draußen wird es immer unheimlicher. Schon bei ihrer Ankunft war ihnen ein Hochsicherheitszaun aufgefallen und ein Zettel im Kühlschrank, wo sie »bei eventuellen Zwischenfällen« anrufen sollten. Auf dem Dachboden trappeln Mäuse und Ratten, und dann lässt sie ein Unwetter tagelang ohne Strom und Internet. Zu den Kindern, die irgendwo in der Welt herumkurven, haben sie keine Verbindung. Das klingt abenteuerlich, ist wahrscheinlich eher belastend, wird aber von der Autorin nur knapp ausgemalt.

»Sommer der Wildschweine« - ja, sie sind eine Plage. Der Zaun soll davor schützen, dass sie rudelweise in die Gärten einfallen und alles verwüsten. Als ob sie die Bewohner vertreiben wollten. Sind die Wildschweine gar Instrumente in der Hand einer anderen Macht? Nein, das natürlich nicht, aber die beiden Urlauber werden bald erfahren, warum die Wildschweine ins Flachland flüchten und dass in der Nachbarschaft schon öfter Zäune durchgeschnitten wurden. »Oben in den Cevennen« wird nach Schiefergas gebohrt. »Fracking, sagte Milan im Auto. Eine Riesenfläche. Hunderte von Dörfern.« Und die Ölgesellschaft braucht noch mehr Land, auf dem sie bohren kann. Von einer Frau, die dort wohnte und eine Textilmanufaktur betrieb, wird erzählt. Ihr Haus sei abgebrannt, sie selbst verschwunden …

Wenn man da weiter denkt, wird einem heiß und kalt. Wasserverseuchung, der Boden bebt. Aber gibt man das Wort ins Internet ein, erkennt man auch noch geopolitische Zusammenhänge. Fracking wird von der Politik befürwortet, um von russischem Erdgas unabhängig zu werden. Andersherum gedacht … Es gibt eine Rationalität, die einen hilflos macht. Kapitalinteressen - weltumspannend und durchsetzungsstark um jeden Preis. Birgit Vanderbeke hat sich darüber schon längst keine Illusionen mehr gemacht. Globale Wirtschafts- und Medienmacht: »Dass wir alle herumlaufen und denken, wir wären aufgeklärt oder auch nur informiert. In Wirklichkeit sind wir beides nicht …«

Wie sich verhalten, wenn man sich so manipuliert fühlt? Die Ich-Erzählerin kann sich nicht isolieren, zumal ihre Kinder herangewachsen sind. Johnny hat es in die IT-Branche verschlagen, da scheint er sich ziemlich gut auszukennen. Die 18-jährige Anouk strickt und hat Elizabeth Zimmermann für sich entdeckt. Johnny hat eine 3-D-Pullover Software entwickelt. Damit lässt sich sogar Geld verdienen. Die Mutter hat gelernt, was Contents und Keywords sind und welche Marktmechanismen dahinter stehen, was sich hinter »Pervasive Computing« verbirgt, und sie kann einen »BSJ« von Zimmermann auf den ersten Blick erkennen. In der Nähe des Ferienhauses, bei zwei alten Leuten, scheint es ein wunderbares Garn zu geben. In den Hinterzimmern verbergen sich wahre Schätze …

Da geht am Schluss alles Holterdipolter. Anouk erscheint und informiert ihre Facebook-Community. 584 Freunde in aller Welt - einige davon kommen. Wildschweine kommen auch. Aber das wird, wie gesagt, leider Holterdipolter erzählt, als ob die Autorin schnell fertig werden wollte. Rettung durch Strickpullover? Naja, sagen wir mal, Ermutigung, wenigstens im kleinen Umfeld etwas zuwege zu bringen.

Birgit Vanderbeke: Der Sommer der Wildschweine. Piper. 152 S., geb., 17,99 €.

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