Dekadenz für alle?
»Nach der Arbeit« - Reto Kamberger inszeniert am »Theater unterm Dach« ein Stück über Sinn und Unsinn des Erwerbsarbeitszwangs
Eigentlich ist alles bereit zum Loslegen. Gebannt warten die Akteure auf des Regisseurs Kommando. Bevor jedoch das Licht ausgehen kann, schlägt Wera Herzberg Alarm: »Wo ist das Geld?« Das Geld? Hat ihr etwa jemand das Portemonnaie geklaut? Nein, beruhigt sie, es sei nur nicht genug Spielgeld da für einen kompletten Probendurchlauf. Die Kostüme, entgegnet Reto Kamberger aus seiner dunklen Regie-Ecke, seien in der Wäscherei, und dorthin müssten wohl einige der Scheinchen versehentlich mitgefahren sein: »Teilt euch das Geld bitte ein!«.
Hier ist es nur ein Spiel. An echtes Bares kommt man ausschließlich über Kriminalität, Lottogewinn, Mäzenatentum oder - was für die überwältigende Mehrheit gilt - Erwerbstätigkeit. Und die hat es uns besonders angetan. So sehr haben wir die Erwerbsarbeit naturalisiert, dass wir ohne sie nicht mehr leben zu können glauben. Sie ist das goldene Kalb, um das die geknechteten, beleidigten, erniedrigten Wesen bis zum Burnout herumtanzen, während die Kapitalisten sich das Geschehen am Rande händereibend anschauen.
»Nach der Arbeit« ist also ein höchst ambitioniertes Projekt; erkundet es doch Wege aus ebendieser Matrix des Erwerbsarbeitszwangs. Ein spannendes Grundszenario stellt es bereits voran: Die Erwerbsarbeit, wie wir sie kennen, ist tot und nun müssen neue Sichtweisen auf diesen so fundamentalen Bestandteil unseres Lebens gefunden werden. Die vier Darsteller spielen am »Theater unterm Dach« am aufgebahrten Sarg der Arbeit nicht etwa fixe Personen, sondern hinter der Erwerbsarbeit zu vermutende motivationale Prinzipien wie Anerkennung (Nizam Namidar), Selbstverwirklichung (Anna Dieterich), Solidarität (Wera Herzberg) - und die eher mit Arbeitsüberdruss verbundene Sabotage (Tancredi Volpert).
Sukzessive arbeitet das Quartett ein durch die Arbeit fixiertes »Testament« ab. Verlangt wird da etwa: »Schafft Anreize für Bildung!«. Ein klarer Fall für die Anerkennung, die einen Schwank aus der Jugend vorträgt, in der sie sich so sehr eine Armbanduhr gewünscht hat. Das wiederholte Bitten beim Vater kontert dieser damit, so etwas müsse man sich durch ehrliche Arbeit erst verdienen. Vier Nebenjobs später ist mehr als genug Zaster für das begehrte Accessoire herangeschafft, und doch macht das viele Geld so gar nicht glücklich. Nächster Versuch: »Garantiert den Lebensunterhalt!« Wie aus der Pistole geschossen, zählen alle Protagonisten aufreibende Jobs auf, die letztlich neben einer Vermeidung der Arbeitslosigkeit nur zu knappem Überleben und einer kranken Seele führen. Sie kommen zu dem Schluss, die gesündeste Lösung wäre wohl: Dekadenz für alle! Oder doch nicht?
In solchen auf Interviews mit dem Ensemble basierenden Szenen-Häppchen mit spielfreudigen Akteuren zeigt sich das große Potenzial dieser Darbietung: Da steht ein Kollektiv auf der Bühne, das ein abstraktes Sujet anhand lebensnaher Beispiele mit fruchtbarer Varianz an theatralen Mitteln (vom klassischen Monolog über wilde Debatten zum Bedingungslosen Grundeinkommen bis hin zu eindringlichem Gesang von Arbeiterliedern) durchexerziert und dabei stumm in die Zuschauerreihen hinüber ruft: »Macht euch eure eigenen Gedanken zu dem, was wir hier vorturnen!«
So viel Arbeit, um den Sinn und vor allem den Unsinn der Arbeit zu ergründen. Nach dem Probenende wirken Kamberger und sein Team dementsprechend erschöpft, aber auch zufrieden. Denn an einer im Stück auftauchenden Erkenntnis kommen auch sie als Erwerbsarbeitskritiker nicht vorbei: »Der Ausbeutung zu entgehen«, pointiert die Sabotage, »ist harte Arbeit!«
Premiere: Donnerstag um 20 Uhr. Weitere Vorstellungen: 26. September, 16./17./18./19. Oktober, 27./28. November, jeweils 20 Uhr im Theater unterm Dach, Danziger Str. 101, Prenzlauer Berg
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