Mit Attila beim Stammestreffen
Ungarische Traditionspflege in der Puszta im Zeichen »reiner Rassen« mit Magyaren und Turkvölkern
Viele Menschen, vor allem junge Leute zieht es an einem Sommerwochenende nach Budapest. Mit Rucksack, Schlafsack und Zelt. Oft kommen sie von weit her: aus West-, Nord- und Südeuropa, etliche auch aus Tschechien, der Slowakei und Polen. Sie streben zur Donauinsel, zum großen internationalen Welt-Musik-Festival Sziget, dem Inbegriff musikalischer Vielfalt und Qualität über alle Kontinente hinweg. Das Sziget-Festival ist ein Inbegriff dafür, dass hier auf dieser Insel diesseits und jenseits des Zentrums von Buda und Pest einige Tage lang ein jugendlich-schwereloses »Eine-Welt-Freiheits-Gleichheits-Regenbogen-Gefühl« ausgelebt werden kann.
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Viele Menschen, jüngere und ältere, Familien mit Kind und Kegel, sind am gleichen Wochenende ebenfalls in Ungarn unterwegs. Sie ziehen jedoch in gewisser Weise zur Gegenveranstaltung - dem »größten Traditionspflegefestival Europas«. Mit Zug, Zelt und Schlafsack, mit PKW, Wohnwagen, Reisebussen. Aus der Nähe von Bugac kommen Männer in traditioneller Hirtenkluft auch hoch zu Ross. Weites, ebenes Land unter einem hohen, wolkenlos blauen Himmel. Glühend heiß der Sand unter der dünnen Grasnarbe der Puszta. Hier erwartet den Zaungast, den »Fremden« aus sichtbar anderen geografischen Gefilden, sicher kein »jugendlich-schwereloses Eine-Welt-Freiheits-Gleichheits-Gefühl«. Er kann froh sein, überhaupt zugelassen worden zu sein.
Das große Kurultáj, Stammestreffen, nennt sich diese von der Magyar-Turan-Stiftung ausgerichtete Veranstaltung. Zelebriert wird sie seit 2007, zum Auftakt noch in Kasachstan. Seit 2008 findet Kurultáj alle zwei Jahre im Herzen Europas, nahe der kleinen Gemeinde Bugac statt, rund 160 Kilometer südlich von Budapest. In der Selbstdarstellung ist die Rede von einem Fest der »Wiedervereinigung unserer Nation, der Ehrung unserer Ahnen und des Patriotismus von über 150 Millionen Seelen vom Karpatenbecken bis Sibirien«.
Der sozusagen geistige Vater des Kurultáj und Chefkoordinator ist András Zsolt Biró, ein Humanbiologe und Anthropologe am Ungarischen Naturwissenschaftlichen Museum. Biró will anhand von DNA-Analysen den Nachweis gemeinsamer genetischer Abstammung erbracht haben, mit den Kasachen als den Ungarn »blutnächstem Stamm«. Zelebriert wird beim »großen Stammestreffen« eine aus Raum und Zeit fallende, indes kollektiv durchaus ernst genommene Traditionspflege. Sie soll in den Osten Europas weisen - als eine energische Abkehr von den liberalen Demokratien des Westens.
Die Gäste des Kurultáj sind mehrheitlich Ungarn. Magyaren. Es kommen aber auch viele von weither. Vor allem aus Erdély, aus dem rumänischen Siebenbürgen, aus »Oberungarn«, der Slowakei, aus der Vojvodina in Serbien und der Karpatenukraine. Eher vereinzelt kommen sie aus Österreich, der Schweiz und aus Sachsen. Etliche werden selbst aktiv an diesem Festival teilnehmen: einen Verkaufsstand aufstellen mit traditionellen Handwerksprodukten aus Holz, Leder, Fellen, Filz und Metall oder mit einheimischen Lebensmitteln. Beliebte Objekte sind vor allem Pfeil und Bogen sowie Kleidung und Accessoires asiatischer Steppenvölker. Andere werden sich auf den Bühnen als Interpreten volkstümlicher und volkstümelnder Musik vom Karpatenbecken bis Kamtschatka präsentieren.
Für unbefangene Besucher, die es dort aber wohl kaum gibt, kann das Kurultáj auf den ersten Blick als ein »Traditionspflegefestival« erscheinen. Ein wenig anders, größer und bedeutender als Schützenfeste in Deutschland oder mittelalterliche Ritterfestspiele in irgendeinem westeuropäischen Städtchen mit denkmalgeschützter Burg.
Hier trifft man, anders als auf dem Sziget-Festival in Budapest, niemanden mit gepiercten Ohren, Nasen und Lippen oder mit hennarotem Haarschopf. Viele Zuschauer, vor allem Männer, aber auch kleine Jungs, tragen T-Shirts mit Aufschriften wie »Ich bin ein ungarischer Kämpfer« oder »Ungarn ist nicht zu verkaufen«. Viele Aufdrucke auf Brust- und Rückenseite sind in Runenschrift. Andere sind versehen mit den Abbildern berittener königlicher Heerführer mit Schwert und Schild: Árpád und Áttila. Historische Gestalten aus Ungarns Gründungsmythos.
Manche kräftige bloße Männerarme, -beine und -nacken geben den Blick frei auf eintätowierte SS-Runen und Hakenkreuze, auf weitere einschlägige Tattoos. Manche Frauen kommen leichtfüßig in wallenden weißen Gewändern daher. Bald hocken sie vereint und vertraut im Kreis inmitten des Platzes mit den kreisrunden weißen Jurten, den für die Nomadenvölker West- und Zentralasiens typischen Filzzelten. Sie begleiten einen Schamanen mit Trommel und Stimme beim rituellen Gesang. Ein nach dem Lateinischen paganistisches, also heidnisches Zeremoniell. Desgleichen die Trauung eines Paares in ungarischer Bauerntracht, geadelt durch pseudochristliche, mythisch-verbrämte Segenswünsche des Schamanen.
Man ist im Hier und Jetzt, im Gestern und Morgen, gleichzeitig im Ungleichzeitigen. Der Zaungast aus Deutschland »fremdelt« stark. Laut ungarischen Medienberichten sollen in diesem Jahr rund 150 000 Zuschauer zu diesem dreitägigen Spektakel gekommen sein.
So weit ist es, geografisch betrachtet, nicht bis zu den Metropolen der Europäischen Union. Doch dieses Szenario mutetet nicht nur archaisch und der Gegenwart entrückt an. Beim großen Kurultáj geht es - ohne dass dies hier vor Ort in Bugac den Besuchermassen gegenüber so beigebracht wird - um nichts Geringeres als um die geopolitische Verortung Ungarns.
Sándor Lezsák, Vizepräsident des ungarischen Parlaments, verbindet mit diesem Massenereignis ein wichtiges Element von Ungarns »Ostöffnung«. Der Fidesz-Politiker ist seit 2010 Schirmherr des Festivals. Ihm geht es um mehr als spirituelle und kulturelle Blutsbruderschaft beziehungsweise eine gemeinsame Gegenkultur zum »dekadenten Westen«. Wichtiger ist ihm vielmehr der von der Regierung Viktor Orbán seit 2010 forcierte Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen zu Ungarns neuen »strategischen Partnern« jenseits der EU: Russland, China, Saudi-Arabien, Zentralasien und Türkei. Dabei berufen sich die Veranstalter ausdrücklich auf tausendjährige spirituelle und kulturelle Gemeinsamkeit, auf Stammesbruderschaft und Blutsbande der sogenannten turanischen Völker.
Der Turanismus ist eine Pan-Bewegung aus dem 19. Jahrhundert, eine mythologisch aufgeladene und völkisch grundierte Abstammungsideologie. Ihren Höhepunkt hatte sie in der Zwischenkriegszeit unter dem Reichsverweser Miklós Horthy. Also nach dem »Schandvertrag« von Trianon 1920, durch den Ungarn zwei Drittel seines Vorkriegsterritoriums an seine Nachbarstaaten, vor allem an Rumänien, abtreten musste und 30 Prozent seiner Einwohner zu »Auslandsungarn« wurden. In Ungarn fühlen sich bis heute besonders Rechtsextreme eng damit verbunden. Namentlich die starke (noch- )Oppositionspartei Jobbik.
Nunmehr paart sich der seither gepflegte Opfermythos mit einem neu belebten Herkunftsmythos. Mit großem Eifer definieren »wahre Ungarn« die Herkunft des Magyarentums neu Sie sind getrieben von dem Willen, sich als auserwählte, edle, verfolgte Rasse, als heroisches Reitervolk aus dem wilden Osten zu inszenieren.
Wuchtig und schwarz hebt sich eine größere Jurte von den anderen ab: die Jurte der turanischen Ahnen. Bewacht von zwei langbärtigen Speerträgern in fußlanger orientalischer Kluft. Muskelbepackte Schwertkämpfer mit mongolischen Gesichtszügen, auch Bulgaren, proben ihren Auftritt in der großen Arena nahebei. Ein haushohes Holzpfostentrapez dient als Eingangstor und zugleich als Rahmen für das überdimensional gemalte Konterfei des Hunnenkönigs Attila.
Neben etlichen türkischen zieren eher wenig geläufige Nationalflaggen die Jurten mit einigen Hundert zeitweiligen Bewohnern. Sie komplettieren das exotische Panorama durch historisch inspirierte Gewänder. Prächtige Parade- und zum Teil martialische Wettkampfuniformen der eurasischen Steppenvölker: Kasachen, Usbeken, Turkmenen, Uiguren, Aserbaidschaner und Kirgisen. Berittene Hirten, Reitersoldaten, Bogenschützen. Türken zeigen starke Präsenz. Und wieder stutzt der Zaungast aus Deutschland: Was hat denn das Konterfei von Kemal Atatürk auf diversen demonstrativ geschwenkten türkischen Flaggen hier zu suchen? Die Antwort: Musikbühnen wurden aus einem Fonds der türkischen Regierung gesponsert.
Dieses bunt gemischte Darstellervölkchen wird seinen fulminanten Auftritt in der großflächigen Arena haben. Die Csikós zum Beispiel, ungarische Pferdehirten aus weit vorindustriellen Zeiten, führen jeweils fünf Pferde gleichzeitig im Galopp rund um das Schaufeld, stehend auf den Rücken zweier Tiere, die drei weiteren am straffen Zügel davor gespannt. Oder das Reiterspiel »Schlag-dem-Türken-den-Kopf-ab«. Im Galopp gilt es, mal im Kreis, mal im Slalom, Aufsätze auf Pfosten mit einer Lanze abzuschlagen. Der Moderator entschuldigt immerhin solches Treiben bei den türkischen Gästen. Es habe der Ausbildung der Pferdehirten in längst verjährten Zeiten gedient. Da war die Feindespalette vom Karpatenbecken bis vor Wien noch anders gemischt.
Auf der Ehrentribüne finden sich Vertreter diverser diplomatischer Korps, darunter ein Sultan mit großem weißen Turban, Japaner mit ihren Frauen in wunderschönen buntseidigen Kostümen. Wie aus Tausendundeiner Nacht. Politische Klientel oder ethnologische Legitimation?
Bei diesem Kurultáj jedenfalls bleibt es auch dem randständigen Gast nicht verborgen, dieses gewollte massenhafte Aufgehen in einem großen Wir-Gefühl - vom Zeltplatz der Zuschauer über das gesamte Areal von Bühnen, Verkaufs- und Gastronomiemeile, Arena und Jurtendorf. Als Teil eines imaginierten Volkskörpers von bis zu mehreren Millionen Menschen. In einem Konstrukt gemeinsamer kultureller und spiritueller Verbundenheit von Magyaren und Turkvölkern als Nachfahren von Hunnen, Awaren und Skythen.
Womit sich der Kreis zur systematischen wirtschaftlichen und mentalen Ostöffnung der Orbán-Regierung auffallend schließt, die ihre Politik ganz auf die Überhöhung der Nation ausrichtet - blutreiner Magyaren versteht sich. Das schließt selbstverständlich die Auslandsungarn im Karpatenbecken ein - und nimmt Roma, Juden, Linke und liberale Demokraten davon aus. Nach dem großen Stammestreffen in Bugac wurden die Veranstalter unter Führung von András Zsolt Biro gemeinsam mit den diplomatischen Ehrengästen und Schamanen im ungarischen Parlament in Budapest empfangen - und damit auf Augenhöhe der gewählten Volksvertreter gestellt.
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