Beileibe keine stumme Figur

Vor 150 Jahren hob Karl Marx die Erste Internationale aus der Taufe

  • Rolf Hecker
  • Lesedauer: 6 Min.

Tatort: St. Martin’s Hall, unweit des Trafalgar Square in London. Tatzeit: 8 Uhr abends am 28. September 1864. Im kleinen Saal der beliebten Konzert- und Tanzhalle findet das Gründungsmeeting der Internationalen Arbeiterassoziation (IAA) statt. An ihm nehmen britische und in London lebende französische, italienische, polnische, deutsche und schweizerische Arbeiter sowie eine aus Paris angereiste Arbeiterdelegation teil.

Erst am selben Tag hat Karl Marx von William Cremer, einem jungen Gewerkschafts- und Friedensaktivisten, der 1903 den Friedensnobelpreis erhalten soll, eine Einladung erhalten. Der Saal ist brechend voll, die Luft wird zunehmend stickig. Der anerkannte Gewerkschafter George Odger trägt einen Aufruf englischer Arbeiter an die französischen vor, die Antwortadresse verliest Henri Louis Tolain. Victor Le Lubez schlägt den Teilnehmern vor, eine internationale Vereinigung des Proletariats zu gründen und dazu eine Zentralkommission aus in London lebenden Arbeitern verschiedener Länder mit Unterkommissionen in anderen Städten Europas zu bilden. Weiterhin ergreifen die englischen Arbeiter George Wheeler und William Dell, der Italiener Luigi Wolff, der Franzose Jean-Baptist Bocquet und der deutsche Schneider Johann Georg Eccarius das Wort. Während sich letzterer »famos herausbiss«, wie Marx Friedrich Engels berichtet, habe er selbst »als stumme Figur auf der Platform«, d. h. am Vorstandstisch gesessen.

In das Komitee wurden an diesem Abend 35 Personen gewählt, darunter Karl Marx. Die erste und vordringlichste Aufgabe des nun so genannten Zentralrats (ab Sommer 1866 Generalrat) war die Ausarbeitung eines Programms und die Festlegung der Organisationsstrukturen. Darüber herrschten unterschiedliche Vorstellungen, die in einem neunköpfigen Subkomitee diskutiert werden sollten. Auf den ersten Sitzungen führte Luigi Wolff das Wort, der die Statuten der italienischen Arbeitervereine, verfasst von Giuseppe Mazzini, als Grundlage empfahl. Der englische Zimmermann John Weston wurde mit der Redaktion einer Präambel beauftragt.

Marx konnte an den ersten Beratungen des Subkomitees krankheitsbedingt nicht teilnehmen. Eccarius bat ihn jedoch eindringlich, zur nächsten Sitzung des Generalrats am 18. Oktober zu kommen. Die beiden Organisatoren der IAA William Cremer und George Odger - nunmehr Generalsekretär und Präsident - hatten sich Eccarius gegenüber wie folgt geäußert: »‘The right man in the right place will undoubtedly be Dr. Marx.« (Der richtige Mann am richtigen Platz wird zweifellos Dr. Marx sein.) Indem Eccarius dies Marx mitteilte, hoffte er, dass dieser sich nun der Abfassung von Prinzipien und Statuten annehmen werde. Marx erhielt dafür eine Frist von zehn Tagen.

Ähnlich wie schon Anfang 1848, als Marx mit Engels das »Manifest der kommunistischen Partei« ausarbeitete, stand er auch diesmal unter großem Zeitdruck. Engels gegenüber bemerkte er, dass es schwierig war, »die Sache so zu halten, daß unsere Ansicht in einer Form erschien, die sie dem jetzigen Standpunkt der Arbeiterbewegung acceptable machte«. Er diktierte zunächst den Text seiner Tochter Jenny und benutzte danach das Manuskript für die mehrfache Überarbeitung. Eine Abschrift für den Druck ist in der Handschrift von Frau Marx überliefert. In der Sitzung des Zentralrats am 1. November wurde Marx‘ Adresse »mit großem Enthusiasmus angenommen«. Bereits am 24. November 1864 erschien die englische Broschüre mit der »Adresse«, den »Provisional Rules« und einer Liste des auf 52 Mitglieder angewachsenen Zentralrats in einer Auflagenhöhe von 1000 Exemplaren. Marx nahm die Übersetzung ins Deutsche selbst vor und gab ihr den Titel »Manifest an die arbeitende Klasse Europa’s«. Es erschien zuerst im »Social-Demokrat« am 21. und 30. Dezember 1864 in 50 000 Exemplaren. Schnell fand der Text in allen Ländern Europas Verbreitung; 1868 bürgerte sich die Bezeichnung »Inauguraladresse« ein.

Marx gelang es, in aller Kürze die Geschichte des Kapitalismus der letzten 15 Jahre anhand der britischen Statistik zu resümieren, um dann auf die Erfolge der Arbeiter- bzw. Gewerkschaftsbewegung einzugehen. Die Einführung des »Zehnstundenbill« in England bewertete er als Ergebnis der »sozialen Ein- und Vorsicht« und forderte auf, weiter um die Begrenzung der Arbeitszeit und um höhere Löhne zu kämpfen. Es ist bemerkenswert, dass Marx die Genossenschaftsbewegung besonders herausgestellt hat als eine Möglichkeit, »die arbeitenden Massen zu befreien« und die ökonomischen Monopole zu brechen. Abschließend betonte er, dass die Arbeiterorganisationen in Europa brüderlich vereint wirken und im Kampf für Emanzipation eng zusammen stehen müssen.

Die Mitglieder des Zentral- bzw. Generalrats trafen sich wöchentlich. Die korrespondierenden Sekretäre für die einzelnen Länder - Marx für Deutschland - informierten dabei über die Arbeit der einzelnen Sektionen. Es wurden »Adressen« zu wichtigen politischen Fragen diskutiert und die jährlichen Konferenzen der IAA vorbereitet. Überliefert sind vier Protokollbücher mit insgesamt 1048 Seiten. In ihnen widerspiegelt sich die Geschichte der IAA als eine lebendige Organisation mit einem anfangs äußerst heterogen zusammengesetzten Führungsgremium. Sie belegen aber auch, mit welcher Intensität sich Marx an den Diskussionen beteiligte und den Ausgleich zwischen den verschiedenen Strömungen suchte. Er war in diesem Führungsgremium der einzige, der politische Erklärungen im Konsens mit allen Mitgliedern formulieren konnte. Insgesamt hat er von 1864 bis 1872 über 50 Dokumente des Generalrats in einem Gesamtumfang von über 200 Druckseiten verfasst und redigiert. Marx war der führende Kopf der Internationale, jedoch primus inter pares - ein Erster unter Gleichen.

Die Internationale wirkte von 1864 bis 1876/77. Höhepunkte waren die jährlichen Konferenzen (London, Genf, Lausanne, Brüssel, Basel), die zu einem Aufschwung und zur politischen Stärkung der nationalen Arbeiterorganisationen beitrugen. In den Jahren 1871/72, als die IAA ihren größten Einfluss verzeichnen konnte, hatte sie bis zu 200 000 Mitglieder, so u. a. in Großbritannien 50 000, in Deutschland 11 000 (einschließlich der Mitglieder der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei), in Frankreich, Belgien und Spanien jeweils etwa 30 000, in anderen Ländern Europas einige Tausend und in den USA etwa 4000.

Nach dem Scheitern der Pariser Kommune und den in diesem Zusammenhang abgegebenen Erklärungen der IAA brach jedoch im Herbst 1871 ein Machtkampf zwischen den Anhängern von Marx und von Michail Bakunin aus. Während Marx für eine straffe Organisation der Arbeiterparteien in den Staaten unter zentralistischer Führung der Internationale eintrat, war Bakunin strikt dagegen. Diese personifizierte Auseinandersetzung führte letztendlich zum Scheitern der IAA. Auf dem Haager Kongress 1872 konnten keine Kompromisse gefunden werden, es kam zur Spaltung. Marx beendete seine aktive Teilnahme in der IAA.

Die Sitzungsprotokolle des Generalrats der IAA wurden erstmals in Vorbereitung des 100. Jahrestages durch das Moskauer Institut für Marxismus-Leninismus in den 1960er Jahren in Englisch und Russisch in jeweils fünf Bänden herausgegeben. In der zweiten Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) werden die Protokolle erneut vollständig abgedruckt, da sie die »schriftliche Fixierung des mündlichen Gedankenaustausches der Mitglieder des Generalrats« (MEGA² I/21) darstellen. Die Herauslösung der Meinungsäußerungen von Marx und Engels hätte eine aufwendige Erläuterung des Kontexts zur Folge gehabt. Da die Protokolle in der folgenden Sitzung bestätigt wurden - manchmal mit kleinen Änderungen -, sind sie zugleich Ausdruck eines autorisierten Textes. Somit stellt die historisch-kritische Edition der Protokollbücher in den MEGA²-Bänden I/20 bis I/23 (wobei letzterer noch nicht erschien) samt umfangreicher Kommentierung eine Zäsur in der Geschichtsschreibung der IAA dar.

Prof. Hecker, Jg. 1953, ist Vorsitzender des Berliner Vereins zur Förderung der MEGA-Edition, Mitglied der Leibniz-Sozietät und Vorsitzender des Kuratoriums der Hellen Panke/Rosa-Luxemburg-Stiftung.

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