Die Hälfte muss gehen
Zum 10. Geburtstag verliert Neuköllns Vorzeigeprojekt 57 seiner 110 Stadtteilmütter
»Ich war völlig von den Socken, wie der Berliner sagt«, beschreibt Heinz Buschkowsky, wie er die »Stadtteilmütter« zum ersten Mal traf. Der Neuköllner SPD-Bürgermeister zählt sich dazu, wenn er vom berühmtesten Integrationsprojekt seines Bezirks, vielleicht der ganzen Stadt, spricht: »Wir kümmerten uns, hinter die Wohnungstüren zu kommen«, und ja, »wir hatten es oft schwer«.
Zehn Jahre ist das Erfolgsprojekt gerade geworden. In dieser Zeit sind 360 Migrantinnen zu Stadtteilmüttern ausgebildet worden und haben 8000 Familien beraten. Das macht 25 000 Kinder, schätzt Buschkowsky. Zur Feier ihres zehnten Geburtstags ist nicht nur er voller Lob für die Stadtteilmütter. Auch der Träger, die Diakonie mit ihrem Geschäftsführer Siegfried Lemming. Oder Stadtentwicklungssenator Michael Müller (SPD) und Barbara Loth (SPD), Staatssekretärin der Senatsverwaltung für Arbeit und Integration. Die Liste der Gäste und Unterstützer ist lang. Elf Preise hat das Projekt schon gewonnen, einen sogar in Australien. Nachahmer gibt es überall in Deutschland, in Berlin sowieso. Niederländische Projekte holen sich Rat in Neukölln, auf Konferenzen in Afrika und China gelten die Stadtteilmütter als »Best-Practice«-Beispiel.
Doch über die eigentliche Neuigkeit spricht keiner der Gastredner. Nur am Rand hört man es immer wieder: Mehr als die Hälfte der 110 aktiven Stadtteilmütter werden bald keine mehr sein. Zum 31. Oktober läuft das »Bundesprogramm Bürgerarbeit« aus. 57 Stadtteilmütter dürfen laut Vorgaben des Jobcenters dann nicht weiter arbeiten, müssen in andere Maßnahmen vermittelt werden - oder bleiben zu Hause, wenn das nicht gelingt. Genau das, was das Projekt eigentlich vermeiden sollte.
Auch Adeline Ilbuodos Maßnahme ist bald vorbei. In einem anderen Leben war die 39-Jährige aus Burkina Faso ausgebildete Sekretärin und Mitglied der Basketball-Nationalmannschaft ihres Landes. Seit 2003 lebt sie in Neukölln. Die ersten Jahre in Deutschland saß sie viel zu Hause, die Kinder waren klein, sie sprach kein Deutsch. 2010 stieß sie in der Schule ihres Sohnes auf die Stadtteilmütter und ließ sich selbst zu einer ausbilden. »Das hat mein Leben verändert«, sagt die große Frau strahlend. Arbeit, soziale Kontakte: »Fast normal ist es geworden.« Heute berät Ilbuodo andere französischsprachige Migrantinnen, bei der Schulsuche, zum Gesundheitssystem und auch zu sexueller Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Das sei manchmal schwer. »Für viele ist das Thema Tabu, das war es auch bei uns.« Jetzt nicht mehr, in Ilbuodos Familie wird viel gesprochen. Auch den Ernährungsplan habe sie umgestellt, Fastfood kommt nur noch selten auf den Tisch. Ob das deutsche Familien nicht auch lernen sollten? »Wahrscheinlich schon«, lacht Ilbuodo. Aber die Stadtteilmütter seien eben für Migranten da - auch wenn manchmal deutsche Mütter um Hilfe fragen. Ob die Westafrikanerin irgendwann zu den Stadtteilmüttern zurückkommen kann, ist fraglich. Das hängt vom Jobcenter ab. Ilbuodo möchte am liebsten eine Ausbildung zur Pflegerin machen. Auch ihre Gründe dafür klingen nach Arbeitsamt: »Ich arbeite gern mit Menschen zusammen.« Und außerdem hätte sie ja wegen der Sprache keine Chance, eine Stelle als Sekretärin zu finden.
Maria Macher ist die »Mutter aller Stadtteilmütter«. Die Diakoniemitarbeiterin rief 2004 das Projekt ins Leben. Sie weiß aber auch, dass Integration nicht nur in eine Richtung funktioniert. Das merkten die Stadtteilmütter, als sie in Büros im Neuköllner Rathaus zogen. »Da mussten sich die Angestellten erst daran gewöhnen, dass Frauen mit Kopftuch ihre Kopierer mitbenutzen«, erzählt die gebürtige Ungarin scherzend. Ein anderes Beispiel: Arabisch oder Türkisch werden in den Schulen selten bis nie unterrichtet. »Eine Mutter, die ihr Kind nicht in die Moschee schicken will, hat da ein Problem.« Denn nur dort könnten Kinder ihre Muttersprache lernen. »Und dann wundert man sich, dass so viele Kinder in die Moscheen gehen.«
Seit der Gründung kämpft Macher um feste Stellen für die Stadtteilmütter. Zehn haben es auf den ersten Bildungsmarkt geschafft: Sie arbeiten seit Dezember für die Diakonie, werden nach Tarif bezahlt. Aber eben nur diese zehn von 110, und auch nur befristet. Nach zehn Jahren stehen die Stadtteilmütter immer noch auf wackeligen Füßen - trotz der namhaften Kooperationspartner Senat, Bezirk und Jobcenter.
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