Tunesien blickt zweifelnd auf die Wahlen
Soziale Probleme könnten viele Menschen vom Urnengang fernhalten
Tunis. Soziale Konflikte, politische Krisen, Ermordung von Oppositionellen und Aufstieg militanter Islamisten: Tunesien hat einiges durchgemacht seit seiner Pionierrolle beim sogenannten Arabischen Frühling zum Jahreswechsel 2010/2011. Und auch das Elend und die Arbeitslosigkeit, seinerzeit die Triebfedern der Revolte, sind nicht weniger geworden. Rund 30 Prozent der Jugendlichen mit Abschluss sind amtlichen Angaben zufolge arbeitslos.
Kein Wunder, dass einige der »Revolutionäre« von damals wie der 44-jährige Fahrer Kamel Torkhani »null Bock« haben auf die am Sonntag anstehende Parlamentswahl sowie die Präsidentschaftswahl am 23. November. Sie fühlen sich um die Früchte ihres Aufstands betrogen.
Torkhani wurde während einer Demonstration in der Hauptstadt Tunis am 13. Januar 2011 von einer Kugel der Sicherheitskräfte ins Bein getroffen. Das war genau einen Tag, bevor sich der damalige Staatschef Zine El Abidine Ben Ali, der 23 Jahre lang autoritär regierte, unter dem Druck der Straße nach Saudi-Arabien absetzte.
Heute sind viele Ben-Ali-Anhänger wieder in Amt und Würden. Für den dreifachen Vater Torkhani, der immer noch hinkt und an Diabetes und Bluthochdruck leidet, gibt es in Tunesien derzeit »weder Würde, noch Gerechtigkeit«. Er werde wählen gehen, »sobald es ehrliche Politiker gibt, die sich um das Volk kümmern«, sagt er. »Vorher nicht.«
Der Straßenverkäufer Béchir Béjaoui hat seinen Optimismus nach eigenen Angaben im Oktober 2011 bei der Wahl zur Verfassunggebenden Versammlung verloren, der ersten freien Wahl in der Geschichte des Landes. Er habe vor drei Jahren mit Freude drei Stunden lang Schlange gestanden, um wählen zu können, sagt er. »Doch diese unfähigen Politiker verdienen nicht einmal eine Minute meiner Zeit«, fügt er hinzu.
Er habe Hoffnung auf Arbeit und einen anständigen Lohn gehabt, erklärt der 29-jährige Béjaoui, der seit seiner Kindheit Zigaretten verkauft, um seinem behinderten Vater beizustehen. »Tausend Mal« habe er dem Gouverneur von Tunis die schwierige Lage seiner Familie dargelegt. Und jetzt verkaufe er immer noch Zigaretten.
»Ich verstehe die Unzufriedenheit der Menschen. Aber um das Wahlrecht zu bekommen, bedurfte es vieler Opfer. Nur, wenn die Menschen jetzt wählen gehen, können sie etwas ändern«, sagt Samir Taïeb. Er ist in einem Wahlkreis der Hauptstadt Spitzenkandidat der Union für Tunesien (UPT), in der linksgerichtete Parteien zusammengeschlossen sind.
Am Sonntag sind 5,2 Millionen Wähler aufgerufen, 217 Abgeordnete in 33 Wahlkreisen zu bestimmen. Die islamistische Ennahda, die in der verfassunggebenden Nationalversammlung die Mehrheit hält, gilt als die Partei mit den meisten Chancen auf einen Sieg. Ennahda-Chef Rached Ghannouchi spricht von einer »Konsens«-Partei, die einen »demokratischen Staat« errichten wolle.
Ennahda-Gegner wie der Vorsitzende der Partei Nidaa Tounès, Béji Caïd Essebsi, zeichnen dagegen eine schwarzes Bild von Ennahda. Die beiden bisher von der Partei geführten Regierungen hätten »zu sozialen Krisen beigetragen und den Terrorismus verstärkt«. An der Spitze des nordafrikanischen Landes steht seit Anfang dieses Jahres eine Regierung von Fachleuten unter Ministerpräsident Mehdi Jomaâ.
Zwei Tage vor der Wahl rufen sich noch einmal die islamistischen Extremisten ins öffentliche Gedächtnis. Einen Tag lang belagern Polizisten in einem Vorort von Tunis ein Haus, in dem sie »terroristische Elemente« vermuten. Die Gesuchten töten einen Polizisten, die Sicherheitskräfte stürmen schließlich das Haus und erschießen darin fünf Frauen und einen Mann. Als der Einsatz vorbei ist, bricht unter den Einwohner des Vororts Oued Ellil Jubel aus. AFD/nd
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