Nur Deckel drauf, Deckel drauf

Die Frauenbewegte und der SED-Reformer: Walfriede Schmitt und Hans Modrow im Gespräch

  • Lesedauer: 15 Min.
Mit Schmitt und Modrow gingen Gabriele Oertel und Tom Strohschneider am 7. Oktober 2014 in Berlin der Frage nach, »Wessen Revolution? « der Aufbruch von 1989 war. Ein Teil des Gesprächs ist hier dokumentiert.
Mit Schmitt und Modrow gingen Gabriele Oertel und Tom Strohschneider am 7. Oktober 2014 in Berlin der Frage nach, »Wessen Revolution? « der Aufbruch von 1989 war. Ein Teil des Gesprächs ist hier dokumentiert.

nd: Walfriede Schmitt, was denken Sie, wenn Sie sich an den 7. Oktober 1989 zurückerinnern?
Walfriede Schmitt: Mir kommt ein Gedicht in den Sinn. »Wisst Ihr, wer Geburtstag hat? Mutti? Vati? Nick? Nein, Kinder, alles falsch - unsere Republik.«

Die es nicht mehr gibt.
Schmitt: Die DDR wäre in diesem Jahr 65 geworden, sie hätte das Alter erreicht, in dem man hätte rüberfahren dürfen in den Westen. Das muss sie ja nun nicht mehr.

Was haben Sie am 7. Oktober 1989 gemacht?
Schmitt: Es gab in der Volksbühne eine von der Gewerkschaftsgruppe organisierte Feier. Wir wollten eigentlich protestieren, aber wir haben das ein bisschen als Geburtstagsfest deklariert und Kulturinstitute, Theater, Schulen usw. aus Berlin eingeladen. Der Intendant Dr. Fritz Rödel wurde dafür in die SED-Bezirksleitung bestellt und sehr getadelt, was er da zugelassen habe: Das geht doch nicht!

Aber es ging?
Schmitt: Man war sich einig, dass ein Abblasen noch schlimmer wäre. Und so gab es dann also diese Veranstaltung in der Volksbühne. Vor dem Haus stand alles voll von Volkspolizeiautos. Drinnen haben wir uns unterhalten über den Zustand in unserem Land, über diese immer absurder werdenden Erklärungen der Parteiführung. Wir waren ja alle in einer bewegten Lage. Die Leute verließen in Scharen das Land. Als ich die Nummer mit dem Schlafwagenschaffner las, der angeblich Leute betäubt haben soll, bin ich aus der SED ausgetreten. Ich hab gesagt: Kinder, hier kann ich nicht mehr mit euch mitgehen, das wird mir jetzt zu blöd.

Bekamen Sie von der Demonstration in Berlin etwas mit?
Schmitt: Natürlich. Beim Mittagessen in der Volksbühnen-Kantine sagte mein Sohn, der war damals 20, da sei eine Demo auf dem Alex und dass er da am Nachmittag hingehen wolle. Ich habe an China und die Ereignisse auf dem Platz des Himmlischen Friedens gedacht und gesagt, tue mir den Gefallen und geh da nicht hin. Und da hat er gesagt: Mutti, in meinem Land passiert was, du wirst mich nicht daran hindern, daran teilzunehmen.

Hans Modrow, wo waren Sie am 7. Oktober 1989?
Hans Modrow: Ich war auf einem Empfang im Dresdner Rathaus. An dem Abend kam die Vertreterin der Freundschaftsgruppe Frankreich-DDR, Madame Heusch zu mir, die viele Verbindungen zur Kirche in der DDR pflegte, und sagte: Kommen Sie doch bitte mit, Freund Modrow. Dann gingen wir zu dem Vorhang, der das Fenster zur Straße verdeckte. Sie fragte mich, was da draußen los sei. Auch in Dresden gab es Demonstrationen bis zur Auflösung mit Gewalt. Am 8. Oktober blieben Demonstranten auf der Straße sitzen und die Volkspolizei kesselte sie ein. Als Vertreter der Lutherischen Kirche kamen Bischof Hempel und Superintendent Ziemer zum Oberbürgermeister Berghofer und auf der Straße wurde für die Katholische Kirche Kaplan Richter aktiv. Der Bezirkschef der Volkspolizei gab die Weisung, den Herren die Möglichkeit zu geben, mit den Demonstranten zu sprechen. Es wurde die »Gruppe der 20« gebildet, Berghofer wurde ihr Gesprächspartner und ein offener, gewaltloser Dialog begann.

Sie waren nicht bei den Feierlichkeiten in Berlin? Dort war doch großer Bahnhof.
Modrow: Ich war am 3. Oktober in Berlin zu einem Empfang der »Aktivisten der ersten Stunde«, also der Gründer der DDR. Diese Ehrung war mir wichtig und Erich Honecker hatte im Anschluss eine Beratung mit den 1. Sekretären der Bezirksleitungen der SED angekündigt. Bis zum 30. September war ich für einige Tage als Gast des Landesvorstandes der SPD in Baden-Württemberg. Honecker wies mein dortiges Auftreten mit scharfen Worten zurück, ich hätte die DDR nicht gebührend vertreten. Es ging um das Verlassen der DDR, wofür ich auch eigene Verantwortung der DDR betont hatte.

Wie war die Lage in Dresden?
Modrow: Die Unzufriedenheit war mit Händen zu greifen. Außerdem fuhren die Züge mit den Flüchtlingen aus der Botschaft in Prag über das Gebiet des Bezirks Dresden in die Bundesrepublik. Heutzutage ist immer von den Verdiensten von Hans-Dietrich Genscher die Rede, der auf dem Balkon die berühmten Worte zur Ausreisemöglichkeit sprach. Aber was unmittelbar danach kam, das wird heute fast vergessen. Was er nicht sagte, dass Bonn und Berlin sich über die Fahrstrecke und das Einziehen der Personalausweise der DDR während der Fahrt verständigt hatten. Eine direkte Fahrt von Prag in die BRD hätte manches verhindert.

Es gab in Dresden bürgerkriegsähnliche Zustände.
Modrow: Ich erhielt sehr kurzfristig die Mitteilung, damals noch mit Telegramm, dass die Züge über Dresden fahren. Zugleich wurde die Grenze zur Tschechoslowakei dicht gemacht. Die Leute hörten also: Dort geht es nicht mehr raus, aber es fahren Züge über Dresden in die Bundesrepublik. Die Lage spitzte sich schnell zu. Tausende, die mit einsteigen wollten, Schaulustige aus Dresden. Der Bahnhof ging kaputt und ich sollte dafür sorgen, dass die Züge ohne Halt durch Dresden fahren. Es war ja klar: Werden die Züge gestoppt, kann es Verletzte und vielleicht auch Tote geben.

Was haben Sie getan?
Modrow: Ich hatte erst mit dem Verkehrsminister Otto Arndt Kontakt, bei dem die Verantwortung für die Züge lag. Dann wurde die Lage immer brenzliger. Ich versuchte mit Verteidigungsminister Heinz Keßler zu sprechen. Den habe ich auf dem Flugplatz in Schönefeld erreicht - er nahm gerade das Training für die Militärparade in Berlin ab. Die machten sich Sorgen, ob das mit dem Marschieren gut klappt. Wir baten um Unterstützung für Dresden, um eine Katastrophe zu verhindern. So unterschiedlich waren die Umstände. Einheiten der Militärakademie haben der Volkspolizei dann Unterstützung gegeben.

Wir haben gerade die Sorgen einer Mutter gehört, deren Sohn am 7. Oktober zu einer Demo wollte. Der Juni 1989 in Peking war nicht lange her. Was im Sommer im »Neuen Deutschland« über China zu lesen war, konnte man durchaus auch als innenpolitische Drohung verstehen. Die Polizei in der DDR ging dann ja auch gewaltsam gegen Protestierende vor. Und nun sollte auch noch das Militär kommen?
Modrow: Es gab einen entscheidenden Unterschied zu China: Wir haben keine Waffen eingesetzt. Und noch im Oktober wurde ein Befehl ausgearbeitet, der zwar die Unterstützung der Polizei durch das Militär regelte, aber einen Waffeneinsatz im Land gegen Demonstranten ausdrücklich verbot. Diesen Befehl hat noch Erich Honecker unterschrieben, ein paar Tage vor seinem Rücktritt. Das war eine klare Ansage: Wir werden keine Waffen einsetzen.

Aber wussten das auch die Menschen in der DDR?
Schmitt: Wir wussten schon lange nicht mehr, was die Führung der SED eigentlich wollte. Und deshalb hatten viele Leute auch Angst in diesem Herbst, dass etwas passieren könnte. Ich weiß auch, dass das Kapital seine Interessen ausspielte. Aber allein darauf kann man es nicht schieben.

Sondern auf wen?
Schmitt: Auf die SED-Führung. Die war in den letzten Jahren der DDR immer schlimmer geworden: Alles verheimlichen, alles zudecken, nichts zur Diskussion kommen lassen, alles verbieten, Gedankengänge, Hoffnungen. Nur Deckel drauf, Deckel drauf, Deckel drauf. Seit der Ausbürgerung von Wolf Biermann lag da der Deckel drauf. Und da muss man sich gar nicht wundern, dass den Leuten hier der Kopf platzte und dass die sich das irgendwann nicht mehr gefallen ließen. Was mich überhaupt die ganze Zeit in diesem Land, in dem ich gelebt habe, so genervt hat war, dass die nicht offen mit den Menschen gesprochen haben.

Hans Modrow, warum wurde nicht offen gesprochen?
Modrow: Eine gute Frage. Vielleicht, weil es auch in der SED selbst nicht möglich war, offen zu sprechen. In den 1980er Jahren hatten sich die Probleme Schritt um Schritt aufgebaut, auch ökonomisch. Als Bezirkssekretär der SED schrieb man jeden Monat einen Bericht mit einem Brief an den Generalsekretär, mit nettem Gruß und so. Im Januar 1989 wies ich auf Probleme hin und forderte, dass man prüft, keine Baukapazität mehr aus Dresden nach Berlin abzuziehen, und einige Dinge mehr. Prompt kam der Anruf: Ich sollte ins Politbüro kommen. Dort wurde mitgeteilt: So nicht, lieber Freund!

Was passierte dann?
Modrow: Die schickten Günter Mittag vom Politbüro und 100 Leute, die uns kontrolliert haben. Das ganze Sekretariat der Bezirksleitung Dresden musste dann wiederum im Politbüro antreten, und dort wurde ich schön auf Vordermann gebracht. Und im April ging ein Schreiben an alle anderen Bezirke mit der Aufforderung: Fangt nicht so was an, wie da in Dresden abgelaufen ist. Die Führung wollte keine Signale von unten, sondern die eigenen Machtstrukturen sichern.

Schmitt: Also wurde es nicht diskutiert.
Modrow: Nein.

Schmitt: Wenn man nicht miteinander reden kann, dann baut sich Hass auf. Es gab so viel Feigheit, so viel Hinter-der-Hand-Gesprochenes und dazu eine Regierung, die sich nicht verständigen konnte und wo Kurt Hager dann zum Schluss sagte: Ich habe es gewusst, aber ich hatte Angst. Das gibt es doch nicht!?

Haben Sie Hans Modrow als Vertreter dieser SED-Führung gesehen? Oder schon als Reformer, als der er ja dann galt?
Schmitt: Ich habe Hans in Köpenick kennengelernt, da war er glaube ich FDJ-Kreissekretär.

Modrow: Nein, da war ich schon Parteisekretär und vorher FDJ-Sekretär für ganz Berlin.

Schmitt: Jedenfalls kannte ich ihn von Veranstaltungen. Und er hat sich mir mit einer Haltung eingeprägt, die ich an einer Geschichte verdeutlichen kann, die für mich sehr peinlich war. Ich kam nach Berlin und hatte keine Wohnung. Meine Mutter sagte, du kennst doch den Modrow, geh doch mal hin, der wird dir schon eine geben. Ich ging dann wirklich hin zu ihm, er hat sich gefreut, wir haben uns ganz nett unterhalten. Ich fing dann vorsichtig mit dieser Wohnung an, wollte ihn dazu überreden, seinen Einfluss für mich geltend zu machen. Und Hans Modrow hat gesagt: Weißt du Wally, so wollen wir gar nicht erst anfangen.

Was haben Sie da gedacht?
Schmitt: Das wäre mir mit vielen anderen, oder wahrscheinlich mit den meisten anderen nicht passiert.

Die meisten anderen, das waren auch in der DDR: in Spitzenpositionen fast ausnahmslos Männer. Wie viele Frauen gab es eigentlich im Sekretariat der Bezirksleitung Dresden zu Ihrer Zeit, Hans Modrow?
Schmitt: Allzu wenig.

Modrow: Wenn es gut ging zwei, in der Regel eine.

Schmitt: Ich habe damals in der Gewerkschaft Kunst Frauenarbeit gemacht. Ich hatte ein unglaublich gutes Buch gelesen von Klaus Theweleit: »Männerphantasien«. Darin wird die männliche Struktur der Politik beschrieben. Da habe ich verstanden, wie das läuft. Ich habe auch verstanden, dass einige Dinge, die mich an der DDR gestört haben, keine Erfindung der Kommunisten gewesen sind. Und ich habe gedacht, man muss die Frauen aufhetzen.

So entstand der Unabhängige Frauenverband?
Schmitt: Naja. Da gehörte noch viel mehr dazu. Aber ich habe damals mit Kollegen von der Volksbühne zusammen gesessen und gesagt, ich möchte das Haus voller kreischender Weiber. Der Intendant sagte vorher, nun, gute Walfriede, wenn du meinst, dass du den Raum voll bekommst. Und der war voll. In die Volksbühne passten damals 850 Leute. Wir waren 1200 Frauen und 200 Kinder. Die Technik hat mitgemacht und wir hatten ein politisches Programm, das Ina Merkel geschrieben hatte und in dem stand, in was für einem Land wir Frauen eigentlich leben wollen. Draußen an der Volksbühne hing ein Riesentransparent: »Hexen, Hexen an die Besen, sonst ist unser Land gewesen!« Wir haben damals ein Stückchen Zukunft vor uns hergeschoben, da bin ich heute noch stolz drauf.

Das war schon im Dezember 1989. Sozusagen am Ende der Wende.
Schmitt: Ja, die Enttäuschungen kamen dann. Eigentlich sollte der Unabhängige Frauenverband ein Dachverband für alle Frauenorganisationen sein. Aber die Botschaft ist nicht verstanden worden. Der DFD hat nicht mitgemacht. Die Frauen von der SED haben nicht mitgemacht. Jeder wollte für sich bleiben. Und das in einer Situation, wo schon klar war: Wenn jetzt der Westen über uns kommt, das wird doch ganz schwierig. Also da steht das Kapital vor der Tür und die Kolleginnen haben keinen anderen Gedanken als: Dürfen auch Männer mitmachen?

Hans Modrow, hat Sie das Aufbegehren der Frauen erschreckt?
Modrow: Nein. Aber ich glaube auch, wenn wir diesen Herbst nur als einen Gegensatz zwischen Mann und Frau sehen, dann werden wir ihn nicht verstehen. Es war in der DDR schon viel länger klar, dass auch auf diesem Gebiet, bei aller Förderung der Frauen, eine Kurve fehlte. Gleichberechtigung war zwar eine Ansage der Politik, aber bei weitem nicht immer Realität im Leben. Frauen wie die Wally haben dann natürlich mit Recht den Aufstand geprobt. Viele Frauen von heute möchten jedoch die sozialen Leistungen von damals gern wieder haben.

Schmitt: Wir haben keinen Aufstand geprobt, wir wollten euch aus der Reserve locken.
Modrow: Aus der Reserve wurden wir eigentlich ständig gelockt. Einmal hatte das auch mit Theater zu tun: 1987 hatte die Parteiorganisation des Dresdner Staatsschauspiels einen Brief an Kurt Hager geschrieben. Der hatte im März 1987 im »Stern« mit Blick auf die Veränderungen in der Sowjetunion unter Michael Gorbatschow gesagt: »Würden Sie, nebenbei gesagt, wenn Ihr Nachbar seine Wohnung tapeziert, sich verpflichtet fühlen, Ihre Wohnung ebenfalls neu zu tapezieren?« Die Theater-Leute sahen das kritisch - und die SED-Führung war außer sich. Ich habe mit den Leuten vom Theater gesprochen, und wir haben überlegt: Wie kommen wir da wieder raus?

Sind sie rausgekommen?
Modrow: Die Frage war, versucht man die SED-Spitze auf Gorbatschow-Kurs zu bringen, obwohl man weiß, dass diese das nie und nimmer machen werden, oder wie weit kann die Selbstkritik gehen, damit der Spielplan bleibt? Die Selbstkritik hatte ich zu üben, das Theater konnte weitermachen. Gerhard Wolfram hatte seinen Platz am Deutschen Theater in Berlin vorher verloren, in Dresden konnte er nun als Intendant weiterarbeiten.

Einem Sozialismus wäre es angemessen, dass das Theater richtig rockt. Und zwar unabhängig davon, was die Herren in Berlin denken.
Schmitt: Na ja klar.

Modrow: Es wäre angemessen gewesen, richtig. Weil es aber nicht so war, ist auch der Kessel DDR immer stärker unter Druck geraten. Man durfte sich nicht erlauben, die Klugheit dieser Führung zu hinterfragen.

Schmitt: Ich glaube, das ist ein Problem von Macht überhaupt.

Modrow: Das ist sehr wahr.

Schmitt: Als ich Vorsitzende der Gewerkschaft Kunst war - was passierte da?! Ich war gewählt, ich komme in einen Raum, man springt auf, man nimmt mir den Mantel ab, man schiebt mir einen Stuhl hin, man fragt, möchtest du etwas trinken, man bietet mir einen Fahrer an und einen Wagen. Ich sagte immer: Kinder, was ist los hier? Ich bin es. Guckt mich nicht so an, ich habe keine Ahnung, wie es gehen soll. Wir müssen das hier gemeinsam herausfinden.

Sie hatten gar keine Macht, oder?
Schmitt: Nein. Aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass plötzlich nur weil du Vorsitzende geworden bist, alle anderen subaltern werden, sich nicht mehr trauen, Schiss haben. Das muss an diesen Strukturen liegen. Und wir haben am Ende der DDR die Chance gehabt, andere zu finden. Oder, was meinst Du: Hatten wir die Chance?

Modrow: Es ist schwierig, diese Frage jetzt zu beantworten, wo wir den Ausgang der Geschichte kennen. Die DDR existierte nicht allein auf der Welt, es gab die Bundesrepublik, es gab die Entwicklungen in den anderen osteuropäischen Staaten schon seit den 1980er Jahren. Ich hatte 1988 auf einer Reise in die Sowjetunion, nach Leningrad, schon das Gefühl: diese Perestroika fährt gegen den Baum. Es sah nicht mehr nach einem besseren Sozialismus aus. Sondern die Entwicklung lief bereits in eine andere Richtung: Kapitalismus. Da war meine Anhängerschaft zu Gorbatschow aufgebraucht. Es ging ja auch um die Eigenständigkeit der DDR; später dann um die Idee eines militärisch neutralen vereinten Deutschlands. Aber das war im Januar 1990 auch schnell Geschichte.

Im Januar 1990 wurden die Zentralen der Staatssicherheit belagert, die zum Symbol für Willkür und Unrecht geworden war. Sie waren Ministerpräsident, Hans Modrow, wie haben Sie diese Tage erlebt?

Modrow: Ich dachte, jetzt könnte noch mal etwas explodieren. Mir ist das am 15. Januar 1990 bewusst geworden. Ich war am Vormittag zum ersten Mal als Ministerpräsident am Runden Tisch und bin dann am Nachmittag in die Normannenstraße in Berlin gefahren. Vor der MfS-Zentrale waren 50 000 Leute. Ich hatte mich bewusst gegen Personenschutz entschieden, das hätte die Lage nur aufgeheizt. Meine Beschützer waren Leute aus der Bürgerbewegung wie Konrad Weiß, die Wert darauf legten, dass dem Ministerpräsidenten nichts passiert.

Was hätte passieren können?
Modrow: Aufgerufen hatte man, alle sollen in die Normannenstraße mit Mauersteinen kommen, damit man nun endlich die Staatssicherheit zumauert. Ich kann einen Mauerstein nehmen und etwas zumauern. Ich kann damit aber auch auf jemanden schmeißen. Das stand dort an dem Tag auf der Kippe. Ich habe zu den Demonstranten gesprochen, es ging um die Auflösung des MfS, das zunächst in Amt für Nationale Sicherheit umbenannt worden war. Den Bürgerkomitees ging das nicht weit genug, es gab schon Besetzungen, der Runde Tisch forderte die Auflösung. Das geschah dann auch, es ging nun um das Wie: Was passiert mit den Akten, wie wird der Sicherheitsbereich neu organisiert?

Das glaubte Ihnen aber nicht jeder?
Modrow: Ich war doch für viele Leute, die auf der Demonstration in der Normannenstraße waren, die »kommunistische Sau«. Das wurde mir dort zugerufen. Aber ich bin trotzdem hingegangen, denn wir wollten diesen Weg weitergehen. Dass ich bemüht war, dort die Balance zu halten, interessiert heute niemanden mehr. Über das Geschichtsbild entscheidet der Deutsche Bundestag und die Opposition neigt nicht selten zum Kompromiss.

Der 7. Oktober 1989 war ein Samstag. Am Abend zuvor hatte es in Berlin einen großen Fackelzug der Freien Deutschen Jugend gegeben. Am Vormittag ratterte Militärgerät auf der Karl-Marx-Allee, am Nachmittag gab es Volksfeste. Seit Wochen wandten sich Abertausende Menschen ab, verließen die DDR über Botschaften, den löchrig gewordenen Eisernen Vorhang, zogen sich zurück. Draußen wurde 40 Jahre DDR gefeiert. Das Tschingderassabum der Selbstinszenierung konnte das Dröhnen der Realität nicht mehr übertönen.
Der 7. Oktober 1989 war ein Samstag. Am Abend zuvor hatte es in Berlin einen großen Fackelzug der Freien Deutschen Jugend gegeben. Am Vormittag ratterte Militärgerät auf der Karl-Marx-Allee, am Nachmittag gab es Volksfeste. Seit Wochen wandten sich Abertausende Menschen ab, verließen die DDR über Botschaften, den löchrig gewordenen Eisernen Vorhang, zogen sich zurück. Draußen wurde 40 Jahre DDR gefeiert. Das Tschingderassabum der Selbstinszenierung konnte das Dröhnen der Realität nicht mehr übertönen.

Dieser Artikel ist Teil des Wende-nd:

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Mehr aus:
- Anzeige -
- Anzeige -