Ich bin noch nicht müde
Rolf Beilschmidt wollte schon früher hoch hinaus. Erst physisch - als einer der weltbesten Hochspringer der 1970er Jahre, der mit seiner Bestleistung von 2,31 Meter immer noch den Thüringer Landesrekord hält. Danach strebte der hagere 1,90-Meter-Mann nach Einfluss und Gestaltungsmöglichkeiten - als Sportfunktionär.
In der DDR war er ab 1989 Vorsitzender des SC Motor Jena und ab 1990 Vizepräsident des Deutschen Turn- und Sportbundes DTSB, nach der Wende baute er den Olympiastützpunkt Thüringen auf und amtiert seit 2001 als Hauptgeschäftsführer des Thüringer Landessportbundes.
Für Kritiker wie die Vorsitzende der Doping-Opfer-Hilfe, Ines Geipel, ist der Mann eine Zumutung: Er bekannte sich Anfang der 1990er zu seiner Vergangenheit als MfS-Zuträger und gab 2011 jahrelanges, bewusstes Doping öffentlich zu. Andererseits hat sich Beilschmidt, der nach jüngsten Berichten des Magazins »Spiegel« über womöglich noch engere MfS-Verstrickungen unter Druck geriet, Verdienste erworben. Er hat einen wesentlichen Beitrag zur Überführung des hauptamtlichen Trainersystems der DDR in den vereins- und verbandsorganisierten Sport der Bundesrepublik geleistet und maßgeblich bei der Umwandlung der ostdeutschen Kinder- und Jugendsportschulen zu Sportgymnasien mitgewirkt. Wonach soll man Beilschmidt nun beurteilen - nach seinen Verfehlungen oder seinen Verdiensten?
9. November 1989. Am Abend des Mauerfalls hält sich Rolf Beilschmidt in seinem Haus in den Jenaer Kernbergen auf. Er kümmert sich um die beiden Töchter, damals 11 und 12 Jahre alt, seine damalige Ehefrau weilt zur Kur. Der Familienvater gehört als ehemaliger Weltklassesportler und Vorsitzender des SC Motor Jena zu den Nutznießern des Systems. Er wohnt im Häuschen in bester Lage, darf ins westliche Ausland reisen.
Am 10. November kommt der Westen zu ihm: Sein Jugendfreund Roland Jahn, damals TV-Journalist, heute Chef der Stasi-Unterlagenbehörde, steht vor der Tür. »Bist du denn verrückt?«, entfährt es Beilschmidt. Jahn, der »Republikfeind«, der 1983 gegen seinen Willen aus dem Land geworfen wurde, hatte sich früh für einen anderen Weg entschieden als Kumpel »Beile«. Jetzt sind beide von den politischen Ereignissen überrascht.
An die Öffnung des Eisernen Vorhangs habe er, sagt Beilschmidt, »trotz der Mangelwirtschaft, trotz der Flüchtenden in der Prager Botschaft, trotz der Grenzöffnung in Ungarn nicht geglaubt.« Er hatte sich mit den bestehenden Verhältnissen und den Widersprüchen arrangiert. Gedanken wie auf einem Verbandskongress 1987 in Italien, warum er nicht einfach so mit der Familie in das Land reisen könne, schob er schnell wieder beiseite. »Rolf Beilschmidt war in vielerlei Hinsicht einer, der das System aktiv gestützt hat«, schreibt Jahn in seinem aktuellen Buch »Wir Angepassten. Überleben in der DDR«.
Fast genau 25 Jahre später. Beilschmidt sitzt im Haus des Thüringer Sports in Erfurt an einem hellen Konferenztisch, unweit des Steigerwaldstadions. Erst als Mitteldeutsche Kampfbahn, später als Georgi-Dimitroff-Stadion diente das Rund Athleten unterschiedlicher Systeme als Bühne - ein Zeuge des politischen Wandels. An den Wänden seines Büros hängen Bilder von Weltmeistern und Olympiasiegern, auf dem Höhepunkt ihres Könnens. Beilschmidts größte Erfolge als DDR-Botschafter in kurzen Hosen waren zwei zweite Plätze bei den Hallen-Europameisterschaften 1977 und 1978, Bronze bei der EM 1978 in Prag und der Triumph im Europa- und Weltcup 1977.
Als Sportfunktionär verfolgte er dafür das Ziel, möglichst viele Goldmedaillen für Thüringen und die BRD zu produzieren. Und er lieferte. Die Erfurter Landespolitiker sonnten sich mit den sportlichen Erfolgen, die Journalisten machten im Medaillenspiegel gar eine eigene Spalte »Thüringen« für den Freistaat auf.
Beilschmidt ist niemand, der sich mit dem Erreichten zurücklehnt. Unter seinem hellblauen Jeanshemd zeichnen sich auch 32 Jahre nach dem Ende seiner Laufbahn keine überflüssigen Pfunde ab, in der Ecke steht ein Rennrad, für eine mehrtägige Tour bestimmt. Das hätte er nur wenige Tage nach dem Interview für »nd« ebenso gut für eine spontane Flucht gebrauchen können, als sich 25 Jahre nach dem Mauerfall längst verschwunden geglaubte Wolken tiefschwarz über ihm auftürmten.
Der Reihe nach: 1976 bei der Hallen-EM in München hatte Beilschmidt Kontakt zu einem westdeutschen Athleten und einer Funktionärin des Deutschen Leichtathletik-Verbandes aufgenommen. Man tauschte Adressen aus - für einen DDR-Sportler konnte das das Karriereende bedeuten. Schon von der Sportschule wäre Beilschmidt - lange Haare, große Klappe - zweimal fast geflogen. Schließlich erpresste ihn die Staatssicherheit mit dieser Dummheit.
Zusammenarbeit oder Verzicht auf Olympia? Die Antwort fällt leicht. Beilschmidt lieferte in den folgenden Jahren als IM »Paul Grün« mündliche Berichte ab, weigerte sich jedoch seinen Freund Roland Jahn zu bespitzeln, warnte ihn sogar vor dem Geheimdienst. 1981 verlor die Staatssicherheit das Interesse an der Zusammenarbeit und beendete sie »wegen Unzuverlässigkeit«. 1983 will er auf Weisung des damaligen Motor Jena-Vorsitzenden - nicht der Stasi - seinen einzigen schriftlichen Report verfasst haben, so der Kern der jüngsten »Spiegel«-Berichte. Über ein Ehepaar, das später in den Westen ausreiste, teilte er persönliche Details mit.
Noch heute ist Beilschmidt mit dem Paar gut befreundet, hat sich mittlerweile entschuldigt. Nach 1983 gab er schließlich weitere mündliche Berichte ab. Als stellvertretender Vorsitzender des SC Motor Jena ab 1985 und auch ab 1989, als er zum Chef jener dopingbelasteten Medaillenfabrik aufstieg, war er dazu verpflichtet.
Mit gerade mal 35 Jahren besaß Rolf Beilschmidt die Verantwortung für rund 130 Mitarbeiter, darunter 60 hauptamtliche Trainer und etliche Westreise-Kader. Dass er dieses nach heutigen Maßstäben mittelständische Unternehmen bis Ende 1990 abwickeln musste, ahnte er am Tag des Mauerfalls freilich nicht. Auch nachdem er im März 1990 zum zweitwichtigsten Sportfunktionär der DDR gewählt worden war, war ihm die Dimension der Arbeit beim DTSB nicht bewusst.
Ihm seien diese Aufgaben angetragen worden, er habe sich nicht freiwillig beworben, sagt Beilschmidt heute. Aber gelangt man ohne persönlichen Ehrgeiz immer wieder in solch verantwortungsvolle Positionen? Es heißt, Beilschmidt sei ein Karrierist, ein ehrgeiziger Einzelspieler, der gerne das alleinige Sagen hat. Kritiker nennen ihn skrupellos, aber so skrupellos, eine Verpflichtungserklärung des MfS zu unterschreiben, war er nach jetzigem Stand nicht.
Vielmehr konnte der 61-Jährige dem Ende der DDR auch Positives abgewinnen. »Die Allmacht der Partei war vorüber«, blickt der heute Parteilose, 1976 bis 1990 selbst Genosse, zurück. »Immer gab es jemanden, der im Sport mitbestimmen wollte, in Entscheidungen hineinredete, nur Kraft seiner Stellung in der Partei, obwohl oft wenig Kompetenz vorhanden war.« Und nun? Wohin mit den 12 000 Mitarbeiter des DTSB, mit den vielen hauptamtlichen Trainern und Funktionären?
Eine Aufgabenfülle, die in dem Dreivierteljahr bis zum Beitritt zum Deutschen Sportbund im Dezember 1990 kaum zu überschauen war, und die viele schmerzhafte Entscheidungen mit sich brachte. Auch als Chef des Olympiastützpunktes gab es ab 1991 genug zu tun. »Die Jahre nach der Wende waren mit Abstand die schönsten. So einen Gestaltungsspielraum gab es danach nie wieder«, sagt er überzeugt. Obwohl Beilschmidt eine Stütze des Systems war, erlebte er die Wende in vielerlei Hinsicht als befreiend. »Das war herrlich, das war meine Welt. Es gab kaum Vorgaben, wir handelten einfach. Man trug natürlich auch die Verantwortung mit allen Konsequenzen.«
Konsequenzen - das ist für Rolf Beilschmidt in den letzten Wochen wieder ein wichtiges Wort geworden. Als Funktionär des SC Motor trug er in Jena, wenn auch nur als Mitwisser, Mitverantwortung für die dortigen Dopingpraktiken. Und auch als Zulieferer der Staatssicherheit war er ein Rädchen im Getriebe. Doping, MfS, SED-Mitgliedschaft: Seine Vergangenheit hat ihn eingeholt.
Roland Jahn bringt sie ebenso in Bedrängnis, weil er sich nach Auffassung mancher nicht klar genug von den Handlungen Beilschmidts distanziert haben soll und in seinem aktuellen Buch gar für Verständnis für den alten Freund warb. Jahn spricht sich darin für einen »differenzierten Blick« aus, hält ein einfaches Opfer-Täter-Schema, völlig zu recht, für unzureichend, um sich historischen Zusammenhängen zu nähern. Was empfiehlt er seinem Jugendfreund? Er solle in sämtliche Unterlagen Einsicht nehmen und über seine Vergangenheit nachdenken, sagt Jahn.
»Der Mann ist 61, er hat alles erreicht«, meint ein Funktionärskollege Beilschmidts. »Ich würde mir jedenfalls das, was jetzt kommt, nicht mehr antun an seiner Stelle.«
Aber Rolf Beilschmidt kann noch nicht lassen, er will weiter gestalten, weiter ganz oben mitmischen - wie praktisch sein ganzes Leben lang. Er wird sich nach 1991 ein zweites Mal einer Stasi-Kommission stellen. Er sagt, die Veröffentlichungen und der mediale Druck hätten ihn sehr belastet, aber er sagt auch: »Ich bin noch nicht müde.«
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