Taffe Mädels im Sog des Elends
Das »Theater an der Parkaue« zeigt den Jugendroman »Tigermilch« in einer Bühnenfassung von Joanna Praml
Alles beginnt so, wie handelsübliche Coming-of-Age-Geschichten immer anfangen. Zwei vierzehnjährige Mädchen proben einen Sommer lang mit Alkohol und sexueller Experimentierfreude die kalkulierte Grenzüberschreitung. Und sie sind verliebt. Nini (Marie Gesien) in den coolen Graffiti-Sprayer Nico (Niels Heuser), ihre Freundin Jameelah (Caroline Erdmann) hat sich in den blonden Bücherwurm Lukas (Jonas Lauenstein) verguckt. Dieser aber bezirzt lieber die hochwohlgeborene Schulhofschönheit Anna-Lena. So weit, so profan. Warum sollte man aus einem dergestalt startenden Jugendroman ein schulklassentaugliches Theaterstück kreieren?
Ganz einfach: Beide Hauptfiguren des im vergangenen Jahr erschienenen Debüts der jungen Stefanie de Velasco sind nicht etwa - wie in so vielen mundgerecht servierten Jugendromanen - gelangweilte Kids aus der Mittelklasse, sondern taffe Mädels aus dem an den trostlosen Stadtrand abgedrängten Prekariat. Stoff für einen rauen, derben und letztlich auch überraschend sich entwickelnden Plot, den die Regisseurin Joanna Praml mit fünf Schauspielern aus dem Ensemble des »Theaters an der Parkaue« zu stemmen wagt.
Gemeinsam packen sie die intensive Sprache der Autorin in gleißende Bilder. Grell, laut, bunt und vor allem: Techno, Techno, Techno. Das ist der Sound der pulsierenden Bundeshauptstadt aus der Sicht Jameelahs und Ninis, die in diese Welt über ihre selbst gegebenen Spitznamen Stella Stardust und Sophia Saturna eintauchen. Sie mischen Mariacron und Maracujasaft in einem leeren Milchbecher zur titelgebenden »Tigermilch«. Sie hängen auf der Kurfürstenstraße ab und üben mit dubiosen Freiern für das »richtige erste Mal«. Sie klauen in den »Wilmersdorfer Arkaden« und schäkern im Freibad mit den Jungs. Sie tun all dies, bis ein Ereignis die Heranwachsenden schlagartig mit knallharten Problemen des Erwachsenenlebens konfrontiert.
Jameelah ist von der Abschiebung in den Irak bedroht. Schnell realisieren die beiden, was die Stunde geschlagen hat - und beschließen, noch in diesem Sommer das Projekt »Entjungferung« erfolgreich abzuschließen, um sich erwachsener zu fühlen; aber auch, um ihrem Leben irgendwie einen unbeschwerten Anstrich zu verpassen. Wohl wissend, dass ihr Dasein noch nie dem bürgerlichen Normalitätsbild nahe gekommen ist und es auch künftig nicht tun wird. Sie sprechen dies an keiner Stelle des Stückes aus. Dennoch strahlt die blumig verkleisterte Resignation der Protagonistinnen atmosphärisch auf die Zuschauerränge ab, weil diese Aufführung sich im Laufe des Abends zum symbiotischen Zusammenspiel des inszenatorischen Fingerspitzengefühls der Regisseurin mit der mimetischen Kraft der Darsteller und der humorvoll aufbereiteten Beobachtungsgabe der Autorin festigt.
Da treffen sich die Mädchen etwa im »Eine-Welt-Laden«, um mit dem dort aktiven Lukas über Menschenrechtsverletzungen in Guatemala zu diskutieren. Der engagierte Aktivismus für darbende Völker verbindet sich hier mit chauvinistischer Eiseskälte gegen die Notleidenden vor der eigenen Haustür: Als Jameelah inmitten des köstlich durch synchrones Teebeutel-in-Teetassen-Tunken in Szene gesetzten Weltschmerzklagens am eigenen Beispiel einwirft, auch in Deutschland gebe es erhebliches Unrecht, wird sie barsch zurechtgewiesen (»Hier bei uns geht es allen gut!«).
Praml hat den rasanten Roman in eine stilistisch dichte Dramatik verwandelt, die geschickt das Erzähltempo variierend dem inhaltsreichen Prosatext entnimmt, was ihr ins stimmige Konzept passt. Und Susanne Hiller hat ihr dafür das ideale Bühnenbild gebaut. An den Wänden hängen überall Discokugeln, dazwischen stehen drei rollende Kästen, mit denen sich das Setting von der belebten Magistrale flugs in ein spärliches Kinderzimmer verwandeln lässt. Oder in jenen sinistren Spielplatz, auf dem die Freundinnen zufällig einen brutalen Mord beobachten. Opfer ist die jüngere Schwester des gemeinsamen Freundes Amir, Täter deren skrupellos-patriarchaler Ehemann. Amir (Thomas Pasieka) stellt sich schließlich der Polizei, doch die Augenzeuginnen wissen von seiner Unschuld - und scheuen sich doch, alles aufzuklären, aus Angst vor Nachteilen für Jameelah.
Nicht nur die Grundstruktur und die prompte Theater-Adaption zeigen: Hier surft jemand auf der »Tschick«-Welle. Vergleiche mit Wolfgang Herrndorfs Bestseller liegen daher nahe. Im Gegensatz zu diesem begeben sich die Protagonistinnen hier jedoch nicht wirklich auf einen »Road Trip«, sondern biegen sich die sie bedrückende Welt so zurecht, wie sie sie brauchen. Außerdem lassen sich, wenn man Parallelen zu anderen Bucherfolgen ziehen will, eher Ähnlichkeiten mit Janne Tellers wunderbarem Roman »Nichts« erkennen, der ebenfalls republikweit auf den Spielplänen zahlloser Theaterbühnen steht. Wie in Tellers Story ahnen die Zuschauer auch in »Tigermilch« schnell, dass dem Publikum ein Happy End versagt bleibt. Die Geschichte endet konsequent nicht mit einem Zurückkriechen in den Schoß der uniformierten Gesellschaft. Vielmehr nimmt sie die meist jugendlichen Zuschauer als denkende Wesen ernst und fordert sie auf, ein kritisches Bewusstsein anhand einer nicht mit offensichtlichen Botschaften aufwartenden Kunst selbst auszubilden.
Nächste Vorstellungen: 1. und 2. Dezember.
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