Formel für Gerechtigkeit gesucht
Die Vereinten Nationen ringen um einen Konsens bei den neuen Entwicklungszielen, der globalen Klimapolitik und der Frage, wer welche Finanzierungslasten tragen soll
Hinter den Kulissen laufen die Verhandlungen längst auf Hochtouren: Im September 2015 wollen die 194 Regierungschefs der UN über die Ziele der künftigen Entwicklungszusammenarbeit entscheiden. Es ist die Fortsetzung der 2000 beschlossenen Millenniumsziele (MDG). Auf die MDG sollen die SDG, sogenannte nachhaltige Entwicklungsziele folgen. Im Dezember wollen dann die Chefs über die weitere globale Klimapolitik befinden und das zu Ende bringen, was gerade beim Klimagipfel in Lima angepackt wird. Zuvor muss jedoch in beiden Feldern die Finanzierung der verstärkten Anstrengungen geklärt werden.
Weltweit wächst die Einsicht, dass es um das gemeinsame Interesse an einer friedlichen und katastrophenfreien Zukunft der Menschheit geht. Die gemeinsame Vorsorge ist denn auch ein zentrales Prinzip. Der Kompromiss, gemeinsame Ziele mit einer unterschiedlichen Verantwortung zu kombinieren, wirft jedoch neue Fragen auf: Was ist eine gerechte Lastenteilung? Von der Antwort hängt es ab, ob der Spagat zwischen der Universalität eines Entwicklungsproblems und der Differenzierung der Verantwortung zwischen den einzelnen Staaten gelingen kann.
Ohne eine Einigung in dieser Kontroverse, ist der Bonner Entwicklungsexperte Jens Martens überzeugt, werde es 2015 weder zu einem neuen Weltklimavertrag noch zu einer globalen Entwicklungsagenda kommen. Martens, Vorstandsmitglied der internationalen »Denkfabrik« Global Policy Forum mit Hauptsitz in New York, hat das Prinzip der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortung (Common But Differentiated Responsibility) der Vereinten Nationen in einer Studie analysiert. Er hat zudem am Hudson River hautnah die zähen Verhandlungen im Rahmen der UN miterlebt. Seitdem kämpft er für die strikte Anwendung des CBDR-Prinzips in allen multilateralen Verhandlungen.
Die gemeinsame Verantwortung für die Wiederherstellung des Ökosystems und der Vorbeugung weiterer Schäden führt in den Fachkonferenzen der UN seither stets dazu, dass zum Beispiel die bedrohten Meere, das Klima oder der Abbau von Armut eine Grundverantwortung aller darstellen. »Fest steht zudem, dass die Lasten und Kosten, die mit Hilfe des CBDR-Prinzips zwischen den einzelnen Ländern aufgeteilt würden, wesentlich geringer seien ›als die Kosten des Nichtstuns‹«, so Martens.
Zugleich machen die Debatten in der UN deutlich, dass die darüber hinausgehende individuelle Verantwortung oft nur schwer zu realisieren ist. Maßgebend dafür ist das Leistungsfähigkeitsprinzip, wie es auch bei der progressiven Besteuerung auf nationaler Ebene angewendet wird. Als Hauptindikator dient dabei weltweit das Bruttoinlandsprodukt. Doch das Prinzip der ökonomischen Stärke als Beitragsfaktor gerät immer wieder in Konflikt mit einem anderen Gerechtigkeitsanspruch - dem Verursacherprinzip. Dieses bedeutet, dass Umweltverschmutzung, Klimaschädigung, aber auch Verstöße gegen die Menschenrechte oder Finanzkrisen einzelnen Staaten ursächlich zugerechnet werden können. Die Konfliktlinien verlaufen hierbei nicht zwischen Ländern, ist Martens überzeugt, »sondern zwischen den Gewinnern und Verlierern einer sozial-ökologischen Transformation«.
Bei der Finanzkrise 2008 wurden zum Beispiel die Banken als eindeutige Verursacher identifiziert. Doch sie in die Pflicht zu nehmen, hätte angeblich ihre Leistungsfähigkeit und damit die Existenz gefährdet, behaupten die Institute selbst. So wurden stattdessen die Steuerzahler zur Kasse gebeten. Aufgrund dieser Erfahrung pochen Finanzpolitiker nun stärker darauf, dass künftig nur noch das Verursacherprinzip gelten soll. Beim Post-2015-Prozess werden ebenfalls die Prioritäten neu justiert. Dabei ist die Durchsetzbarkeit in der politischen Praxis entscheidend. So versuchten die UN, die individuelle Leistungsfähigkeit eines Staates umzusetzen mit dem Ziel, mindestens 0,7 Prozent der nationalen Wirtschaftsleistung für die EZ aufzuwenden - auch nach 40 Jahren immer noch nur mit mäßigem Erfolg. Dagegen findet dieses Prinzip bei den gestaffelten Mitgliedsbeiträgen für die EU oder die Weltbank Anwendung. Was nicht ausschließt, dass einzelne Mitglieder (Großbritannien) manchmal aus der Reihe tanzen.
In der bilateralen Hilfe hingegen wird das Solidaritätsprinzip stets im Streit mit dem Eigennutzanspruch hochgehalten. Ein Beispiel ist die Frage, weshalb das inzwischen finanzstarke Schwellenland Indien noch immer einer der größten Empfänger unserer Entwicklungshilfe ist. Hier gibt es zwei Antworten: sei es, weil das Land einer der wichtigsten Exportmärkte für uns ist, sei es, weil es noch immer das Land mit den meisten absolut Armen weltweit ist. Die Antwort hängt davon ab, wohin unser Geld in Asien tatsächlich fließt.
Beim Leistungsfähigkeitsprinzip stellt sich eine andere die Frage, nimmt man als Vergleichsmaßstab die gesamte Wirtschaftsleistung eines Landes oder nur das Pro-Kopf-Einkommen. Im ersten Fall wäre etwa China zweitgrößte Volkswirtschaft, pro Kopf gehört China allenfalls zum ökonomischen Mittelfeld. Hat Entwicklungshilfe aber nicht auch mit der internationalen Solidarität und einem globalen Humanismus zu tun? Als moralische Kategorien können sie nicht operationalisiert werden, spielen aber dennoch eine politische Rolle. Martens plädiert dafür, ein einheitliches globales Existenzminimum zu definieren, unterhalb dessen ein Land nicht zu den jeweiligen Kosten einer Reform beitragen muss.
Die internationalen Prinzipien sind Bollwerke gegen den Druck mächtiger nationaler und gruppenegoistischer Interessen. Sie funktionieren teils mit moralischen Ansprüchen wie der Gerechtigkeit, teils mit völkerrechtlich bindenden Normen. Entscheidend ist, wie die einzelnen Prinzipien gewichtet und umgesetzt werden. Darüber sollte ein demokratischer Willensbildungsprozess befinden, und zwar auf der Geber- wie auch auf der Nehmerseite. Die Spaltung der Menschheit in Industrie- und Entwicklungsländer ist überholt. Überwunden ist sie durch diese Einsicht noch nicht. Doch für alle gilt: Nichts kommt teurer als das Nichtstun.
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