Von Belgien streiken lernen
Hans-Gerd Öfinger über den jüngsten Generalstreik
Auch wenn Belgien nur eine Zugstunde von Köln entfernt liegt, nehmen die meisten Gewerkschafter hier die Lage im westlichen Nachbarland kaum wahr. So zeigten sich viele erfreut und überrascht, als sie Anfang der Woche Meldungen über den eintägigen Generalstreik verfolgten, der das Land weitgehend lahmlegte. Nach Einschätzung vieler Akteure war dies der größte Generalstreik in Belgiens Geschichte, begleitet von aktiver Solidarität von Kulturschaffenden, Intellektuellen und Studierenden. Der politische Streik, den sich viele in Deutschland herbeisehnen, war am Montag in Belgien Realität.
Was die belgischen Gewerkschafter auf die Palme bringt, ist auch hiesigen Aktivisten geläufig: Anhebung des Rentenalters auf 67 Jahre sowie Kürzungen von Löhnen, Gehältern und Renten. Dazu kommt ein Generalangriff auf eine belgische Errungenschaft: Der »Index«, eine Art gleitende Lohnskala, sieht eine automatische Lohnanpassung an die Preissteigerungsrate vor und ist dem Kapital ein Dorn im Auge. Die Angriffe der Rechtsregierung sind vor allem auch eine Folge des Drucks, den die EU-Kommission und Bundeskanzlerin Angela Merkel seit Jahren auf Brüssel ausüben. Nach länger andauernden Regierungskrisen möchte das Kabinett jetzt nachholen, was Troika, Banken und Großkonzerne anderswo längst erzwungen haben. Dass man in Belgien seit langem mit Sorgen das deutsche Lohndumping wahrnimmt und sich gegen »deutsche Zustände« wehren will, zeigt die Kampagne »Helft Heinrich!«, die der größte Gewerkschaftsbund ACV/CSC initiiert hatte. »Heinrich« steht für den deutschen Niedriglöhner. Einst als »moderates« und »christliches« Gegengewicht zum sozialistischen Gewerkschaftsbund ABVV/FGTB gegründet, hat sich der ACV/CSC über Jahrzehnte durch Druck von unten radikalisiert. Die Einheitsfront aus den beiden und dem liberalen ACLVB/CGSLB stand am Montag wie eine Eins. Statt einer seit Jahren von Nationalisten geschürten Spaltung des Landes in einen flämischen Norden und wallonischen Süden steht nun die arbeitende Bevölkerung mit ihrem hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad als einigende, fortschrittliche Kraft im Rampenlicht. Dass die flämischen Nationalisten in der Brüsseler Zentralregierung den Ton angeben und sich als Hardliner gebärden, dürfte manchen flämischen Arbeitern, die sie aus Enttäuschung über die Sozialdemokratie gewählt haben, die letzten Illusionen rauben. Die Regierung hat in der Bevölkerung nur noch eine Zustimmung von 20 Prozent. Während viele in den Gewerkschaftsvorständen auf »Dialog« mit der Regierung setzen und hoffen, dass der Generalstreik ihre Verhandlungsposition stärkt, denken andere schon weiter und orientieren auf neue Streiks im Januar und Februar. Nach dem Streik ist vor dem Streik. Europaweiter Schulterschluss von unten und politische Alternativen sind das Gebot der Stunde.
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