Wenn Waisen noch einmal Waisen werden
In Liberia werden Kinder von Ebola-Opfern aus Angst selbst von Verwandten ausgegrenzt
Als seine alleinerziehende Mutter und seine große Schwester starben, wurde Saye (Name geändert) zum Aussätzigen. Denn seine Familie starb an Ebola. Aus Angst, sich beim zehnjährigen Liberianer anzustecken, ließen alle Freunde und Verwandten den Jungen im Stich. Dabei erzählte Saye ihnen immer wieder, dass er sich nicht infiziert hatte. Doch in dem Land, in dem sich nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation bislang 7819 Menschen mit Ebola infiziert haben und 3346 daran gestorben sind, glaubt kaum jemand einem Ebola-Waisen.
Saye ist kein Einzelfall. Nach Schätzungen des liberianischen Gesundheitsministeriums haben in dem westafrikanischen Land bislang 2000 Kinder durch Ebola ihre Eltern verloren. Damit sie mit ihren Eltern nicht auch die Chance auf ein Leben in Würde verlieren, eröffnen die liberianische Regierung und die SOS-Kinderdörfer jetzt ein Übergangswohnheim für Ebola-Waisen. Die 18 Frauen und Männer, die sich dort um die Kinder kümmern, wissen genau, was die unter fünf Jahre alten Jungs und Mädchen durchgemacht haben. Denn die Betreuer haben die meist tödlich verlaufene Krankheit selbst überlebt, sind jetzt immun gegen eine erneute Ansteckung.
»Manche der Kinder haben innerhalb kürzester Zeit Mutter und Vater verloren. Wir versuchen, ihnen jetzt so viel emotionalen Halt wie möglich zu geben, damit sie nicht dauerhaft traumatisiert werden«, sagt George Kordahi, Direktor der SOS-Kinderdörfer in Liberia. Statt auf Trost stoßen Ebola-Waisen in Liberia fast immer auf Ablehnung, Angst oder sogar Hass. In der Hauptstadt Monrovia haben die Aufklärungskampagnen mittlerweile zwar gut gewirkt, aber auf dem Land glauben immer noch viele Menschen, dass Ebola-Kranke von Hexen oder bösen Geistern verflucht sind. Die Zahl der Straßenkinder ist deshalb sprunghaft angestiegen. Die meisten von ihnen sind mangelernährt, haben ein geschwächtes Immunsystem und sind deshalb besonders gefährdet, sich mit Ebola, Malaria oder Typhus anzustecken.
Weil das liberianische Gesundheitssystem bereits vor Ausbruch von Ebola vollkommen überfordert war, hat die Regierung von Friedensnobelpreisträgerin Ellen Johnson-Sirleaf jetzt die seit 33 Jahren in Liberia tätigen SOS-Kinderdörfer gebeten, bei der Betreuung der Waisen zu helfen. In Brewerville, 15 Kilometer nördlich von Monrovia, hat die Hilfsorganisation deshalb ein Haus für die Unterbringung von bis zu 25 Kindern, die Kontakt mit Ebola-Infizierten hatten, gemietet. Während der dreiwöchigen Inkubationszeit werden sie dort psychologisch und medizinisch betreut. Zeigen die Jungs und Mädchen nach 21 Tagen keine Krankheitsanzeichen, bemüht das Kinderdorf sich, sie bei ihren Familien oder Pflegeeltern unterzubringen. Trotz Unterstützung durch das Internationale Rote Kreuz wird dies nicht immer gelingen. Denn auch wenn Ebola-Überlebende nicht ansteckend sind, sind sie stigmatisiert. Selbst enge Verwandte haben im wahrsten Sinn des Wortes Berührungsängste. Hinzu kommt, dass infolge der Epidemie die Lebensmittelpreise stark gestiegen sind und viele der oft kinderreichen Familien sich einen weiteren Esser einfach nicht leisten können. Diejenigen, für die keine Pflegefamilie gefunden wird, sollen in einem der beiden SOS-Kinderdörfer in Liberia ein neues Zuhause finden. Bis zu 80 Kinder sollen dort in den nächsten Monaten aufgenommen werden.
Für die Einrichtungen ist der Ebola-Ausbruch damit die größte Herausforderung seit dem Ende des Bürgerkrieges vor elf Jahren. »Damals wie heute sind viele Eltern gestorben und haben viele Waisen hinterlassen. Insofern ist die heutige Situation durchaus mit der während des Krieges vergleichbar. Andererseits wusste man damals ziemlich genau, wer der Feind ist und ungefähr, wann und wo mit Angriffen zu rechnen ist. Bei Ebola hingegen weiß man nicht, wer der Feind ist. Es gibt keinen Frontverlauf und keinen Waffenstillstand«, sagt George Kordahi.
Mit 8759 registrierten Fällen ist Nachbarland Sierra Leone mittlerweile das Land mit den meisten Ebola-Kranken und Toten. In Liberia geht die Zahl der Neuinfektionen mittlerweile zurück. Um die Ansteckungsgefahr so gering wie möglich zu halten, dürfen Kinder und Betreuerinnen die mit einer hohen, stacheldrahtbewehrten Mauer umgebenen SOS-Kinderdörfer dennoch kaum verlassen. Auch im vom Kinderdorf betrieben Krankenhaus, das viele infizierte Patienten an spezielle Ebola-Behandlungszentren überwies und als einziges rund um die Uhr geöffnete Gesundheitsstation in Monrovia dazu beitrug, die medizinische Versorgung aufrecht zu erhalten, gelten strenge Sicherheitsvorkehrungen. »Alle Mitarbeiter, die direkten Kontakt mit Patienten haben, tragen Schutzanzüge. Solange das Gegenteil nicht bewiesen ist, behandeln wir jeden zunächst so, als hätte er Ebola«, sagt die 37-jährige Quendi Appleton, die selbst im SOS-Kinderdorf in Monrovia aufwuchs und mittlerweile Verwaltungschefin der Klinik ist.
Trotz der strengen Vorkehrungen starb eine Krankenschwester an Ebola. Sie hatte sich angesteckt, als sie ihren erkrankten Schwager zu Hause pflegte. Das Gesundheitszentrum musste daraufhin für neun Tage geschlossen und komplett desinfiziert werden. Auch eine SOS-Kindermutter starb an Ebola, nachdem sie sich beim Besuch ihrer leiblichen Tochter angesteckt hatte. »Für die sieben von Mama Pannah betreuten Kinder war es ein riesiger Schock. Sie wurden innerhalb kürzester Zeit zum zweiten Mal Waisen«, berichtet Kordahi. Da Pannah Saywrayne nach ihrer Infektion nicht mehr in das Kinderdorf zurückkehrte, konnte eine Infektion von Kindern bislang vermieden werden.
Trotz oder vielleicht gerade wegen der seit Monaten anhaltenden Ausnahmesituation wollen die Mitarbeiter der Hilfsorganisation den Kindern ein möglichst fröhliches Weihnachten mit kleinen Geschenken, Weihnachtsdekoration und einem Festessen mit Hühnchen und Reis bereiten. Doch Saye hat nur einen Wunsch. Er hofft, dass sich bis Weihnachten eine Familie gefunden hat, die sich nicht vor ihm fürchtet und mit ihm feiern möchte.
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