Ver.di-Chef warnt vor digitaler Prekarisierung
Bsirske: Neue Arbeitswelt stiftet Autonomie, gleichzeitig wird aber auch Druck größer / Automatisierungsdividende müsse in neue Jobs fließen / Recht auf Nichterreichbarkeit gefordert
Berlin. Die Digitalisierung der Arbeitswelt birgt nach Einschätzung der Gewerkschaft ver.di Chancen, aber auch Gefahren. Darauf müsse die Bundesregierung angemessen reagieren, sagte der Vorsitzende Frank Bsirske der Deutschen Presse-Agentur in Berlin. »Wir wollen die großen Herausforderungen für die Arbeitswelt im digitalen Zeitalter 2015 zu einem Schwerpunkt machen«, kündigte er an.
Der Gewerkschaftschef warnte vor digitaler Arbeitslosigkeit. »Ganze Berufsfelder sind von der Digitalisierung bedroht«, meinte er. »Die Frage ist, inwieweit auf die Automatisierung der Muskelkraft eine Automatisierung des Denkens folgt.« Große Sparpotenziale bei den Arbeitsplätzen drohten. Eine Automatisierungsdividende entstehe.
Diese müsse in neue Arbeitsplätze investiert werden - etwa im Erziehungs- oder Gesundheitsbereich. Verwegen wäre es laut dem ver.di-Chef, sich darauf zu verlassen, dass sich genug Ersatzarbeitsplätze von selbst entwickelten. »Das müssen Politik, Arbeitgeber und Gewerkschaften unterstützen und fördern.«
Die Unternehmen könnten Beschäftigte im digitalen Zeitalter zudem viel stärker kontrollieren, sagte Bsirske. So könne etwa der Versandhändler Amazon erkennen, wann seine Lagerarbeiter während ihrer Schicht stehen blieben. »Und wenn man über den Laptop arbeitet, sind die Arbeitsergebnisse absolut vergleichbar.«
Diese Vergleichbarkeit setze Beschäftigte unter Druck. Auch könne man im Prinzip jederzeit von überall arbeiten. »Arbeitnehmer können so Autonomie gewinnen, aber gleichzeitig wird der Druck auch größer.«
Als konkreten Schritt forderte Bsirske eine Festschreibung des Rechts auf Nichterreichbarkeit. Es sollte auch darum gehen, die massiv zugenommenen psychischen Erkrankungen wegen Arbeitsbelastungen ernster zu nehmen: »In Schule, Aus- und Weiterbildung muss die Fähigkeit, Grenzen setzen zu können, vermittelt werden.« Die Beschäftigte müssten ihre Bereitschaft zur Entgrenzung der eigenen Leistung auch stärker selbst reflektieren.
Beim Crowdsourcing sei musterhaft die Gefahr einer digitalen Prekarisierung zu sehen. Hierbei erledigen Menschen zu Hause Arbeiten im Internet für Firmen. »Solo-Selbstständige« konkurrierten weltweit um Aufträge und böten Lösungen an - aber nur die attraktivsten würden honoriert. Bsirske warnte: »Für Rente und Auftragslosigkeit können die Betroffenen oft überhaupt keine Vorsorge treffen.«
»Es gibt große Chancen und große Risiken« der Digitalisierung, so Bsirske. Bei der Bundesregierung sei ein Bewusstsein für diese Ambivalenz da. Ver.di sei - begleitet durch das Bundeswirtschaftsministerium - dabei, die Digitalisierung zum Thema von Branchendialogen mit den Sozialpartnern zu machen. dpa/nd
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.